

Steigende Preise und kein Ende in Sicht
Sebastian Kiefer in FALTER 11/2022 vom 18.03.2022 (S. 40)
Es sind doch nur Nummern im Computer, diese Staatsschulden. Was soll schlecht daran sein, wenn die EZB in Krisenzeiten hilft, die Zinsen für Staatsanleihen – Geld, das sich Staaten von den Bürgern leihen, um Ausgaben über Steuereinnahmen hinaus tätigen zu können – zu senken, indem sie emittierte Staatspapiere einzelner Staaten aufkauft? Die Staaten können dann Rentner, Beamte, Arbeitslose und Infrastruktur bezahlen, Finanzakteure können nicht mehr auf den Kursverfall dieser Staatspapiere wetten.
Hans-Werner Sinn, bis 2016 Präsident des Münchener Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und der einflussreichste Volkswirtschaftler Deutschlands, gehört zu den Kritikern des aufgeblähten Finanzmarktes, üppiger Konjunkturprogramme und der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB). Einerseits „rettet“ für ihn die EZB keine Staaten, sondern vor allem große private Investoren. Sie schaffe Zombie-Banken und lege die Kosten am Ende auf den Steuerzahler um. Andererseits löse die EZB-Politik die durch den Euro entstandenen Probleme nicht, sondern verschärfe sie und nehme stillschweigend eine Umverteilung von den starken Ökonomien des Nordens in die Südländer vor.
Seit 2008, dem Jahr der Lehman-Krise, ließen die Aufkaufprogramme der EZB und die künstlich gedrückten Leitzinsen die Geldmenge der Zentralbank emporschnellen. Noch liegt der Geldüberhang von vier Billionen Euro großteils bei den Banken, doch wenn die Zinsen ansteigen und das Geld in Umlauf gebracht wird, werde eine längst bestehende Inflation beschleunigt werden.
Vor diesen Inflationspotenzialen warnt Sinns neues Buch eindringlich, denn jüngst kamen inflationsverstärkende Faktoren hinzu: Neben den Staatsverschuldungen durch die Corona-Krise sind das die quarantänebedingten Lieferengpässe von Material und Zulieferprodukten. Sie führten 2021 zu den stärksten Preissteigerungen im verarbeitenden Gewerbe seit 70 Jahren und zu einem Nachfrageüberhang, der durch Konjunkturprogramme noch verstärkt wird. Rohstoffpreise stiegen, die Erzeugerpreise in Industrie und Nahrungsbranche wurden hochgetrieben. Die Energiewende soll teils durch Subventionen auf Schuldenbasis finanziert werden. Die Erhöhung des Mindestlohns in Deutschland werde die Arbeitslöhne hinauftreiben. Die USA könnten ihre Leitzinsen bald erhöhen, Geld werde in die USA fließen und der Euro werde abgewertet.
Sinn neigt wie stets zur dramatisierenden Zuspitzung und Reduktion, um seine Interventionen in die öffentliche Meinungsbildung wirkungsvoll zu machen. Vor allem seine unveränderte Kritik an der staatsinterventionistischen „Energiewende“, dem staatlich forcierten Bauboom und an Konjunkturpaketen reizen zum Widerspruch. Doch sein Buch ist von einer Klarheit und Datenfülle, die es nicht nur zu einer hochaktuellen Gegenwartsdiagnose, sondern zugleich zu einer idealen Einführung in modernes volkswirtschaftliches Denken machen. Nicht etwa, weil man mit allen Argumenten einverstanden sein muss. Sondern weil es in vorbildlich aufklärerischer Weise vor Augen führt, was ein mündiger Bürger kennen und verstehen muss, um sich ein eigenes, wohlbegründetes Bild der Lage zu machen, in der wir Europäer heute stecken.