

Drei Akkorde, stacheliges Haar, wütende Jugendliche und der Fall der Mauer
Gerhard Stöger in FALTER 12/2017 vom 24.03.2017 (S. 36)
Rumort hatte es bereits 1976 ganz ordentlich, aber erst 1977 wurde zum großen Jahr des Punk: Die Sex Pistols, Englands wichtigste Punkband, veröffentlichten ihr einziges Album und versauten der Königin mit dem Lied „God Save The Queen“ das silberne Thronjubiläum. Der Kult des Hässlichen, die gelebte Verweigerung, das Aufbegehren und der Reiz der drei Akkorde eroberten 1977 die Welt – und über geschmuggelte Jugendmagazine und heimlich gehörtes Westradio landete die Botschaft auch in der DDR.
Im September 1977 erreichte sie dort Britta Bergmann, die unter dem Pseudonym Major zu einem der ersten Ostberliner Punks werden sollte. Bergmann kam aus einer oppositionellen Familie, ihre Großeltern hatten als Antifaschisten gegen Hitler gekämpft. Unter dem Einfluss von Punk wurde Major zu einer ganz anderen Freiheitsaktivistin: Ihr ging es um individuelle Freiräume, ein Ausbrechen aus einer Gesellschaft, in der nicht nur die Wirtschaft nach Plan zu verlaufen hatte. Mit 16 hatte Bergmann ihr erstes Stasi-Verhör, 1981 wurde sie als „gefährliche Staatsfeindin“ eingesperrt. Sie verweigerte die Kooperation mit der Stasi, landete vier Wochen nach der Freilassung wieder für eineinhalb Jahre im Gefängnis und wurde anschließend in den Westen abgeschoben.
Tim Mohr hat die Geschichte von Major aufgeschrieben, ebenso jene Dutzender anderer rebellischer junger Menschen, die sich in der DDR der ausgehenden 1970er- sowie der 1980er-Jahre unter dem Banner des Punk fanden. Er hat Dutzende Interviews geführt, Stasi-Akten studiert und diverse Bücher zum Thema gelesen. Auf Interview-
passagen und O-Töne verzichtet er aber weitgehend, stattdessen erzählt er die Geschichte des ostdeutschen Punk und seiner politischen Bedeutung auf eine derart plastische und bildstarke Weise, die einen beim Lesen förmlich zum Zeugen des Geschehens macht.
Mohr verwebt die diversen Biografien von Menschen und Bands an unterschiedlichen Orten der DDR zu einer gemeinsamen großen Erzählung. Um Musik geht es dabei nur am Rande, um Zeitgeschichte und jugendliche Rebellion dafür umso mehr – und um Kämpfe, die mit Frisuren und Songtexten ausgefochten wurden.
Trotz seiner Faktenfülle und seines Detailreichtums ist „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft“ kein trockenes historisches Werk, sondern eine lebendige und packende Abenteuergeschichte; ihr Sound schließt ein dramatisches Hollywood-Epos mit einem akribischen Dokumentarfilm kurz. Von Beginn an arbeitet diese Geschichte auf eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung hin, sie schließt aber nicht mit dem Fall der Mauer ab. Am Ende landet Mohr im Berlin von heute und beschreibt noch den prägenden Einfluss einstiger Ostpunks auf das Nachtleben der Stadt.
Der Nachgeschmack dieser Heldengeschichte ist bitter: In ihrer anarchischen Suche nach Freiräumen wurden die ostdeutschen Punks als radikale Kraft der Veränderung zu Wegbereitern der Wiedervereinigung – anstatt eines besseren, lebenswerteren Sozialismus stand der Kapitalismus am Ende ihrer Rebellion.