

Noch ist Polen nicht verloren
Paulus Hochgatterer in FALTER 11/2021 vom 17.03.2021 (S. 24)
So sehen künftige Stars aus: polyglott aufgewachsen, fünf Sprachen fließend sprechend, Abschlüsse an den Universitäten Cambridge und Paris und zwischen Wohnsitzen in England, Polen und Frankreich so frequent unterwegs, dass man meinen könnte, der junge Mann befinde sich permanent auf Tournee. Apropos jung: Als Wunderkind geht Tomasz Jedrowski altersmäßig nicht mehr ganz durch. Geboren 1985, widmete er sich nach einigen Jahren als Jurist und einem Intermezzo als Model ganz dem Schreiben, konkreter, dem Verfassen seines literarischen Debüts. In Großbritannien per aufwendiger Auktion an den Verlag gebracht und daraufhin im englischsprachigen Raum vielgepriesen, liegt der Roman nun auf Deutsch vor.
„Im Wasser sind wir schwerelos“ blickt gleich zu Beginn – markiert durch eine Erinnerung an die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 – zurück ins Polen zur Zeit der Militärregierung. Ludwik, der Protagonist, schreibt ein Jahr nach seiner Emigration nach New York aus dem Exil an Janusz, seinen ehemaligen Geliebten. Janusz hat es vorgezogen, sich dem Regime anzupassen und mit der Tochter eines Funktionärs ein Kind zu bekommen, verleugnet dabei nicht nur seine eigentliche politische Haltung, sondern vor allem seine Homosexualität und seinen Geliebten.
Im Sinn einer eindringlichen, manchmal beinahe verzweifelten schwulen Selbstvergewisserung schlägt Jedrowskis Roman einen Bogen von der ersten erotisch getönten Begegnung Ludwiks zu seinem eigentlichen Coming-out inmitten der politischen Repressionen der frühen 1980er-Jahre. Im Zentrum der Geschichte steht die Liebe zwischen den beiden jungen Männern, ihr Aufkeimen während eines verpflichtenden Ernteeinsatzes, ihre Kulmination in der Zeit danach und ihre fehlende letzte Erfüllung.
Als gewissermaßen magisch aufgeladenes affirmatives Element fungiert James Baldwins Roman „Giovannis Zimmer“ aus dem Jahr 1956, ein Schlüsselwerk der Schwulenliteratur. Einerseits kennzeichnet es Art und Ausmaß der homosexuellen Identifikation der beiden – Ludwik verfällt dem Buch und möchte darüber dissertieren, Janusz liebt es ebenfalls, entscheidet sich aber, für die Zensurbehörde tätig zu bleiben –, andererseits soll es den Stellenwert von Literatur insgesamt unterstreichen.
Man hat mit „Im Wasser sind wir schwerelos“ eine klassische und klassisch gebaute Liebesgeschichte vor sich, die alles enthält, was man sich erwarten darf: Zartheit und Leidenschaft, Innigkeit und Zweifel, Überschwang und Verrat, schließlich die große Botschaft des einen, der Gewissheit gewonnen hat, an den anderen, der dieser Gewissheit nicht gerecht werden kann.
Das alles liest man nicht ungern, insbesondere vor dem Hintergrund der im gegenwärtigen PiS-Polen grassierenden LGBT-Aversion. Freilich ist das auch das Problem des Romans: Mehr als das Erwartbare stellt dieser einem nicht zur Verfügung. Die Figuren sind nach vertrauten Klischees gezeichnet, handeln schematisch und bieten nicht, was man sich von Lektüre manchmal erhofft, nämlich die eine oder andere Überraschung. Gleiches gilt für die Sprache. Die Stille ist „lähmend“, das Sonnenlicht „gleißend“, in dunklen Räumen riecht es nach Moschus, und dass dem unter dem Stoff der Unterhose liegenden Schwanz des Freundes das Adjektiv „welterschütternd“ angetan wird, möchte man nur zu gern der Übersetzerin anlasten.
„An manchen Menschen, manchen Ereignissen verzweifelt man. Sie sind wie Guillotinen, die das Leben zweiteilen, in das Tote und das Lebendige, das Davor und das Danach.“
So heißt es im ersten Kapitel des Buches, und man bemüht sich, daran nicht zu verzweifeln. Vielleicht gibt es derartige Guillotinen inzwischen ja tatsächlich, oder vielleicht urteilt man zu streng, weil man sich gerade dem Polen Kaczyńskis und Morawieckis gegenüber ein wenig mehr gewünscht hätte: mehr Lebendigkeit, mehr Wagemut oder mehr Welterschütterung.