

Ein Buch über den Mann, vor dem sich Putin fürchtet
Simone Brunner in FALTER 37/2021 vom 15.09.2021 (S. 22)
In ihrer russischen Heimat ist Regimekritikern meist kein ruhiges Leben vergönnt. Aber würde man alle Handlungen, Pointen und Wendepunkte alleine im vergangenen Lebensjahr des Alexej Nawalny zu einem Serienplot verdichten, eine Netflix-Staffel reichte dafür wohl gar nicht aus: Der Oppositionelle wurde in Sibirien mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet, ist dem Tode nur knapp entronnen, wurde nach Deutschland ausgeflogen, ist an der Berliner Charité genesen. Kaum auf den Beinen, telefonierte er sich bis zum FSB-Mordkommando durch, das auf ihn angesetzt war, und werkte an seiner Rückkehr nach Russland, mit der Gewissheit, doch nur weggesperrt zu werden.
Am 2. Februar dieses Jahres wurde Nawalny vom Staat, der ihn zu vergiften versuchte, zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Als die Richterin das Urteil in einem kafkaesken Gerichtsprozess verlas, lachte er seine Frau durch die Gitterstäbe an, formte seine Finger zum Herz, und rief ihr zu: „Alles wird gut. Mach dir keine Sorgen.“
Es ist kein dramatisches Biopic, das die Politologen Jan Matti Dollbaum, Ben Noble und Morvan Lallouet über den inhaftierten russischen Oppositionspolitiker geschrieben haben. Aber die erste Biografie über einen Mann, dessen Schicksal seit seiner Nowitschok-Vergiftung im August 2020 die ganze Welt in Atem hielt, die auf Deutsch erschienen ist: „Nawalny. Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft.“
Für die einen ist er ein Freiheitsheld, witzig, mutig und charismatisch. Für die anderen ist er als Nationalist und Rassist verschrien, der noch vor wenigen Jahren Schulter an Schulter mit Rechtsextremen durch Moskau marschierte. Die Autoren nähern sich dem 45-jährigen Blogger über drei Erzählungen an: Nawalny als Antikorruptionsaktivist, als Politiker und als Straßenaktivist. Zuerst Liberaler, dann Nationalist, heute Demokrat und der berühmteste politische Gefangene des Landes.
Politisch ist Nawalny tatsächlich schwer zu verorten. Mit seiner Anti-Establishment-Rhetorik auf Youtube oder Instagram, wo er ein Millionenpublikum erreicht, erinnerte er manchmal wirklich an Donald Trump, und dass sein Aufstieg zum wichtigsten Putin-Gegner mit dem Siegeszug der sozialen Medien zusammenfällt, ist gewiss kein Zufall. Aber Russland ist nicht die USA. Vielmehr ist Nawalny, so die Autoren, ein Populist mit umgekehrten Vorzeichen. Denn das System, das Nawalny bekämpft, ist nicht die Demokratie. Sondern die Autokratie.
Das alleine macht ihn freilich noch nicht zu einem russischen Nelson Mandela oder einem würdigen Friedensnobelpreisträger. „Aber es ist auch wichtig, die russische Perspektive mitzudenken“, schreiben die Autoren, sie benennen sein Netzwerk, seine Unterstützer, sein Team. Dabei holen sie mitunter weit aus, um Nawalnys Werdegang zu verorten.
Vom Ölboom in den 2000er-Jahren, als der gewiefte Jurist als Minderheitenaktionär den Staatsbetrieben auf die Finger schaute. Von den Moskauer Protesten 2011/12, bei denen der junge Nawalny mit seinen radikalen Slogans gegen die „Gauner und die Diebe“ die Stimmung anheizte und aus einem Ein-Mann-Blog eine landesweite Protestbewegung formte. Seine Organisationen haben die Behörden in diesem Jahr als „extremistisch“ verboten und auf eine Stufe mit den Taliban gestellt.
Das sagt weniger über Nawalny aus als über die Bedeutung, die der Kreml diesem „unbedeutenden Blogger“ wirklich beimisst. Es ist keine packende Vorlage für eine Netflix-Serie. Aber ein Buch, das der westlichen Debatte über den „Mann, vor dem sich Putin fürchtet“ (Die Zeit) bestimmt guttun wird.