

Im Bett mit Jean-Jacques Rousseau
Jörg Magenau in FALTER 41/2011 vom 14.10.2011 (S. 18)
Karl-Heinz Ott dekonstruiert in seinem Roman "Wintzenried" einen großen Aufklärer
Wenn Jean-Jacques Rousseau nicht eine Erfindung wäre, dann hätte es ihn geben müssen. Genau sagen lässt sich das nicht, denn Rousseaus "Bekenntnisse" sind so romanhaft, die Person, als die er sich dort entwirft, ist so unmöglich, dass jede spätere Bemühung um eine ordentliche Biografie dagegen verblassen muss.
Karl-Heinz Ott, geboren 1957 im schwäbischen Ehingen, studierter Philosoph und Musikwissenschaftler, erfahrener Dramaturg und Autor, hat das Leben des französischen Philosophen deshalb gleich als das genommen, was es ist: als Psychogramm eines Psychopathen und als endlosen Fortsetzungsskandal. Fiktion und Wirklichkeit lassen sich darin nicht genau unterscheiden, aber dieses Problem ist gewissermaßen den Tatsachen geschuldet.
"Er liegt im Bett, onaniert und stellt sich Mama dabei vor." Das ist für ein Buch über einen Moralisten der Aufklärung ein ungewöhnlicher Beginn. So stellt man sich einen strengen Philosophen jedenfalls nicht vor. Mit Distanz und Diskretion ist hier nicht zu rechnen.
Mama immerhin, so erfährt man ein paar Sätze später, ist Rousseaus 13 Jahre ältere Geliebte oder auch nur mütterliche Beschützerin. Sie nennt ihn "mein Kleiner", und wenn sie mit ihm schläft, kommt es ihm wie Inzest vor. Also spricht einiges für die Onanie, auch wenn er sich wegen dieser Sucht Sorgen um sein schwindendes Rückenmark macht.
Merkwürdig auch, dass das Buch nicht
nach der Hauptfigur "Rousseau" heißt, dessen Wichtigkeit doch seiner eigenen Wahrnehmung gemäß das Universum restlos erfüllen müsste, sondern vielmehr "Wintzenried", nach einer Gestalt, die von eher marginaler Bedeutung ist. Wintzenried ist der Name des Friseurs, der Rousseau als Geliebter im Bett der "Mama" nachfolgt. Er findet nur in wenigen Sätzen Erwähnung. Wintzenried ist seine narzisstische Kränkung, und da Rousseau in Otts Darstellung aus nichts als narzisstischen Kränkungen besteht, ist der verwirrende Buchtitel eben doch angemessen.
"Wintzenried" ist ein psychologischer und kein philosophischer Roman, ein komischer Roman über eine tragische Existenz. Wer wissen will, was Rousseau geschrieben hat, wer sich mit seiner Erziehungslehre und seiner Naturverklärung auseinandersetzen möchte, sollte besser philosophische Fachbücher lesen. Bei Ott erfährt er darüber nur wenig, und das wenige ist verzerrt durch die Wahrnehmung der Zeitgenossen oder, noch schlimmer, durch den Geniewahn Rousseaus.
Permanent fühlt er sich von Gott und der Welt verraten und sehnt sich nach unsterblichem Ruhm und immer noch mehr Ruhm – vor allem, um Voltaire zu übertrumpfen und Diderot und die Enzyklopädisten hinter sich zu lassen. Dabei erträgt er die Menschen immer weniger, und vor denen, die ihm vorübergehend etwas näher stehen, kann er nicht verbergen, was er wirklich ist: "ein hundsgemeiner Lügner, ein undankbares Schwein, ein affektierter Affe und philosophischer Scharlatan."
Wenn es die Figur Rousseau nicht schon gegeben hätte, hätte Karl-Heinz Ott sie erfinden müssen, so wunderbar fügt sie sich in sein Werk. Drei Romane hat er bisher veröffentlicht, zuletzt außerdem eine kontrovers aufgenommene Biografie über Georg Friedrich Händel. Seine Helden haben häufig damit zu tun, sich vor aufdringlichen Mitmenschen in Sicherheit zu bringen und das eigene labile Selbstbewusstsein durch manische Übersteigerung zu befestigen.
Doch je heftiger sie in langen Tiraden die
Welt beschimpfen und sich selbst ins Recht setzen, umso unübersehbarer wird ihre zerstörerische Unruhe. Ott führt Innenwelten als Kampfplätze vor, wo die Erinnerungen sich überstürzen, wo Rechtfertigungen in Selbstanklagen umschlagen, wo erotische Fantasien wuchern und Hass und Liebe nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Mit Rousseau geht er noch einen Schritt weiter. In wilder Entschlossenheit holt er alles, was nach Geist, Theorie, Werk und Bedeutung klingen könnte, ins Triebhaft-Animalische. Aufklärung ist nicht mehr als eine persönliche Eitelkeit, ja, es stellt sich die Frage, ob Rousseau überhaupt Aufklärer ist. Wer die Vernunft für Selbstbetrug hält und den Fortschritt für eine zerstörerische Kraft, gehörte schon im 18. Jahrhundert zu den Aussteigern oder zumindest zu den Vorläufern der von Adorno und Horkheimer kritisierten "Dialektik der Aufklärung".
Otts leidenschaftlicher Entwurf eines Philosophen hat eine Schwäche, und zwar die, dass er die philosophischen Implikationen nicht weiter verfolgt. Ihn interessiert die Entstehung von Gedanken mehr als ihr Inhalt. Er zeigt, dass jedes Denken, auch das ganz große, im Persönlichen wurzelt. Was ist von einem zu halten, der seine fünf Kinder umstandslos ins Waisenhaus brachte und zugleich eine der berühmtesten Erziehungslehren schrieb? Von einem, der Bücher publizierte, um zu beweisen, dass eine Welt ohne Bücher eine bessere Welt wäre? Von einem, der glaubt, dass sich aus der Geschichte nichts lernen lässt, weil wahre Natur keine Geschichte kennt?
Alles Unsinn, sagen seine Widersacher mit Recht. Von Rousseau lassen sich keine Wahrheiten lernen, sondern nur die Strategien, mit denen man sie in die Welt setzt. In seiner paranoiden Eitelkeit war er ein Popstar seiner Zeit. Otts "Wintzenried" ist eine Form der Dekonstruktion von Philosophie. Angewandte Skepsis. Also ein durchaus aufklärerischer Roman auf der Höhe seines Gegenstandes.