

Ein Pottwal von einem Roman
Klaus Nüchtern in FALTER 5/2013 vom 01.02.2013 (S. 28)
Vergesst Tarantino! Ahab gegen Moby – das ist Brutalität. Und "Moby Dick" ist bis heute nicht zu fassen
Um das öffentliche Bild des Pottwals war es auch schon besser bestellt. Er hat einfach keine zeitgemäße PR. Der Pottwal ist nicht einmal auf Facebook. Kein Wunder, dass ihm der Orca, der eigentlich nur ein großer Delfin ist, sich aber rechtzeitig das Böse-Buben-Image des "Killerwals" zugelegt hat, längst den Rang abgelaufen hat – vor allem im Leitmedium Film, wo er zuletzt der feschen Marion Cotillard beide Unterschenkel wegfressen durfte.
Vor zwei, drei Jahrhunderten war das noch anders. Da war Physeter macrocephalus, der dem Orca in jeder Hinsicht überlegen ist, der unumstrittene König der sieben Weltmeere.
Die Kehrseite seines an den Küsten des Atlantiks und Pazifiks verbreiteten Ruhms war freilich der Umstand, dass er erbarmungslos gejagt wurde. Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Walfang sein historisches Hoch erreichte und das Seinige zum Aufstieg der Vereinigten Staaten zur führenden Industrienation beitrug, befuhren allein von den USA aus über 700 Walfänger mit 18.000 Seeleuten an Bord die Meere und machten einen Umsatz von sieben Millionen Dollar.
Diese statistischen Angaben kann man jedenfalls dem Roman "Moby Dick" entnehmen, mit dem Herman Melville mehr für den Pottwal getan hat als Franz Kafka für den Käfer, Nelle Harper Lee für die Spottdrossel oder Giuseppe Tomasi di Lampedusa für die Pardelkatze.
Seinem gewichtigen Helden – Pottwalbullen werden bis zu 50 Tonnen schwer – hat Melville mit seinem berühmtesten Werk wahrhaftig ein würdiges Denkmal gesetzt: "Moby Dick" ist selbst ein Wal von einem Roman; wobei es weniger dessen durchaus solider Umfang ist, der einem Respekt abnötigt, als vielmehr der gigantische Magen dieses schier unersättlichen Buches – unglaublich, was da alles reingeht!
Wer zum ersten Mal "Moby Dick" liest, wird mit ziemlicher Sicherheit feststellen, dass er sich etwas ganz anderes vorgestellt hat. Vielleicht einen allegorisch hochaufgeladenen Roman über den Kampf des Menschen mit der Natur mit Hemingway'schem Wetterleuchten am Horizont.
Das ist nicht falsch, aber noch lange nicht alles. Melville agiert ähnlich wie sein Protagonist: Macht Moby das Schiff seiner Verfolger zu Kleinholz, so wirft Melville alle unsere Vorstellungen von einem Roman des 19. Jahrhunderts über den Haufen.
Es fängt schon einmal damit an, dass "Moby Dick" gar nicht mit seinem berühmten ersten Satz "Call me Ishmael" beginnt (den die 1946er-Übersetzung von Thesi Mutzenbecher und Ernst Schnabel inadäquat flapsig mit "Nennt mich meinethalben Ismael" wiedergibt), sondern mit einer Reihe aneinandergereihter Zitate zum Thema "Wal", die von der Bibel über Shakespeare, Milton und Goethe bis zu Reiseberichten, politischen Protokollen und einschlägiger Fachliteratur reicht.
Der enzyklopädische Ehrgeiz, der Melville antreibt, macht die Lektüre nicht unbedingt kurzweiliger, und man kann die Enttäuschung so manches Amazon-Rezensenten ("Ich hätte mir eher einen Roman in der Form von ,Der Seewolf' gewünscht") durchaus nachvollziehen. Die Kapitel 55 und 56, in denen die "ungeheuerlichen" und die "weniger fehlerhaften Bilder vom Walfang" mit gefühlten 248 Beispielen vorgeführt werden, wird man wohl so hurtig durcheilen wie ein Wadi bei Karl May.
Die radikale Modernität Melvilles bleibt jenen, die – so wie "Ein Kunde" – lieber den "Seewolf" gelesen hätten, allerdings verschlossen. "Moby Dick" ist nun mal kein Abenteuerroman, sondern als Roman ein Abenteuer, gerade weil sich sein Autor nichts scheißt. Einen Roman zu schreiben, dessen Titelheld erst auf den letzten 40 Seiten was zu tun kriegt und der 180 Seiten braucht, bis der zweite Protagonist an Deck humpelt – diese Chuzpe muss man erst einmal aufbringen.
Wer "Moby Dick" gelesen hat, wird den "Ulysses" nicht mehr ganz so beeindruckend finden. Joyce' Virtuosität im Wechsel der Tonlagen und Genres wird hier präludiert – allerdings ohne die Tausendsassahaftigkeit, die am "Ulysses" mitunter auch etwas nerven kann.
Melvilles Roman ist Sachbuch und Fiktion, zivilisationskritischer Essay und Actionreißer, metaphysisches Traktat und ein bewegendes Pladöyer für (religiöse) Toleranz in einem und liefert gleichsam nebenbei und lange vor Horkheimer und Adorno in Kapitel 107 eine Kritik der instrumentellen Vernunft, die den Menschen gleichsam als Schweizermesser beschreibt: "dieses Universalwerkzeug von auf- und zuklappbarem Zimmermann" ("this omnitooled, open-and-shut carpenter").
Als wäre damit noch nicht genug, erweist sich Melville auch noch als glänzender Humorist: Wie der Erzähler und der Harpunier Queequeg, Inbegriff des noblen Wilden, einander zum ersten Mal begegnen, ist dermaßen komisch, dass "Moby Dick" im Bewerb um den lustigsten Romananfang aller Zeiten fraglos in der Spitzengruppe mitschwimmt.
Und schließlich hat Melville auch noch mehr Musik im Leibe als die meisten Romanciers nicht nur seiner Epoche – weswegen man "Moby Dick" auch unbedingt im Original lesen sollte. Das ist kein Spaziergang, aber, Hand aufs Herz, den ganzen nautischen Kram versteht man auf Deutsch genauso wenig.
Wenn Ahab "ein König der See" ist, dann ist Melville der König der Alliterationen und Assonanzen: "down, down to the dumbest dust" sinnt Ahab über die Endlichkeit allen menschlichen Strebens nach; und niemand, so weiß wiederum der Erzähler, vermag stärker zu empfinden als jener, der zum ersten Mal hinabgezogen wird "into the charmed, churned circle" der Waljagd. Kein Wunder, dass Melville in Kapitel 40 auch gleich noch ein Singspiel mitgeliefert hat, von dem einem allein beim Lesen – "Rig it, dig it, stig it, quig it" – die Ohren klingeln.
Das jambische Gleichmaß der Sätze imitiert das monotone Schaukeln der See ("the rolling waves and days went by"), und manche Passagen schreien geradezu danach, durch Zeilenbruch in die Strophen eines Gedichts verwandelt zu werden: "A gentle joyousness – a mighty mildness of repose in swiftness, invested the gliding whale." Da kann die "ruhevolle Kraft und Milde" der sehr anständigen Übersetzung des Ehepaars Seifert von 1956 beim besten Willen nicht mithalten.
Ahab und Moby sind – unabhängig vom bekannten Ausgang des Showdowns – einander ebenbürtig. Dem tragischen Wahnsinn des einen entspricht die sublime Größe des anderen. Melville wahrt Äquidistanz. "Madame Bovary, c'est moi", meinte Flaubert. Mit gleichem Recht könnte Herman Melville sagen: "Moby and Ahab – that's me!"