

Der leidenschaftliche Zeitgenosse
Alfred Pfoser in FALTER 12/2023 vom 24.03.2023 (S. 34)
Wer hätte das gedacht? Thomas Mann findet heute größere Aufmerksamkeit als etwa Bertolt Brecht, er hat sich als die übergroße Figur der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts durchgesetzt.
Es sind die Widersprüchlichkeiten, das Schlachtfeld der geistigen Kämpfe, die Kälte seiner Beobachtungen und Personenbeschreibungen, die nicht nur eine akademische Leserschaft in seinen Bann ziehen. Auch in der aktuellen Burgtheateraufführung des „Zauberbergs“ (empfehlenswert!) kann man erleben, wie sehr der Nobelpreisträger nach wie vor fasziniert.
Die Spezialität seines riesigen belletristischen Lebenswerkes war die Ironie, mit der er die bürgerlichen Verfallsgeschichten ummantelte und dabei das Kunststück zuwege brachte, dass der gebrochene Realismus seiner Romane auch die großen geistigen Auseinandersetzungen der Zeit integrierte.
Ebenso imponiert die politische Lernkurve seines langen Lebens. Früh studierte Thomas Mann den Faschismus („Mario und der Zauberer“) und analysierte in vielen Essays, weshalb sich das Bürgertum ihm so schnell ergab. Die spezifische deutsche Tradition, schrieb er, mache anfällig für die „machtgeschützte Innerlichkeit“.
Jetzt sind (wieder einmal) gewichtige Bücher über Thomas Mann erschienen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und einander doch ergänzen. Zwei Bücher, die auf langjährige Vorarbeiten und Beschäftigung aufbauen und von sehr verschiedenen Temperamenten und Schreibweisen geprägt sind.
Zwei Biografien, die den Zugang zum „Zauberer“ komplett anders anlegen: Dieter Borchmeyer schießt gleich im Vorwort kräftig gegen einen weit verbreiteten Thomas-Mann-Biografismus, der Leben und Werk angeblich unlauter vermengt (und sich allzu gern auf die homophilen Neigungen des Meisterschriftstellers stürzt).
Allein die Seitenanzahl ist imponierend. Borchmeyer, der den Anspruch hat, die „erste große Werkbiographie“ zu schreiben (was Thomas Mann-Auskenner wohl für übertrieben halten), konzentriert sich ganz auf die „mythisch-kulturgeschichtlich-philosophischen Bezüge“.
Hier waltet eine detektivische Philologie, die alle Arten von Quellen aufspürt. Sehr lehrreich die ausführlichen Passagen über die enorme Bedeutung von Musik in Manns Werk; er befand sich nicht nur „Im Banne Wagners“ (so ein Kapitel). Und dann sind da noch viele Seiten reserviert für die ausführliche Präsentation und kundige Analyse seiner politisch-philosophischen Essays und Mahnreden. Ein monumentaler Reader, eher für den Spezialisten.
Die so unterschiedliche Konzeption der beiden Bücher ist sicherlich auch den Branchen geschuldet, in denen die beiden Autoren gearbeitet haben. Dieter Borchmeyer legte als Germanist und Theaterwissenschaftler im akademischen Betrieb große Arbeiten über die Weimarer Klassik und Richard Wagner vor. Hanjo Kesting war jahrzehntelang Kulturredakteur des Norddeutschen Rundfunks und publizistisch sehr rührig.
Gemäß seiner Schulung pflegt er mehr den pointierten, publizistischen Zugriff, bekennt gleich in der Einleitung, dass er nicht immer ein besonderer Verehrer des Nobelpreisträgers war. Sein Buch verfährt nicht systematisch, sondern schlägt eklektizistische Schneisen ins Werk.
Klar, dass „Die Buddenbrooks“, „Der Zauberberg“, „Joseph und seine Brüder“ eigene Kapitel bekommen, aber vieles andere fällt weg. Hanjo Kesting tut in gewissem Sinn genau das, was Borchmeyer anprangert, widmet einzelne Kapitel dem Mann-Clan (Heinrich, Klaus), wertet genussvoll Thomas Manns Tagebücher als Quelle aus und erzielt so erfrischende, unheroische Innenansichten in „Glanz und Qual“ (so der Untertitel seines Buchs) des Meisterschriftstellers.
Diejenigen, die eine Einführung wollen, sind hier gut aufgehoben.
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