

Die vierte Matratzeninternationale
Erich Klein in FALTER 42/2022 vom 19.10.2022 (S. 23)
Ein Trottel ist ein Idiot ist ein Privatmann. Dostojewskis Fürst Myschkin und der brave Soldat Schwejk zählen ebenso dazu wie die Komiker aller Herren Länder gegen den Geist ihrer Zeit. Vor allem, wenn sie sich an Robert Musil hielten: „Das Dumme, worüber ich mich lustig mache, bin auch ich selbst.“ Aus dem Kampf mit der Welt geht nur kein Trottel unbeschädigt hervor. Für Jan Faktor gilt das allemal und ganz besonders für seinen jüngsten Roman „Trottel“. Diesem vorangestellt ist ein Motto aus eigener Feder: „Was ist der Grund meiner guten Laune? Einfach Alles.“
Der 1951 in Prag geborenen Faktor übersiedelte 1978 nach Ostberlin, wo er bald Zugang zur literarischen Subkultur in Prenzlauer Berg fand. Obschon mit der Tochter von Christa Wolf verheiratet, zog er die dissidente Existenz als Kindergärtner und Schlosser den Privilegien des sozialistischen Dienstadels vor und schrieb experimentelle Literatur: „Ich bin als ein Trottel auf die Welt gekommen, bin wie ein Trottel aufgewachsen und musste folgerichtig einer bleiben – zu retten oder gutzureden war da nichts.“
Dieses Eingangsstatement wird allerdings wie fast alles, was auf knappen 400 Seiten und 262 Fußnoten folgt, unzählige Male unterlaufen und überboten: „Überraschenderweise kam alles anders.“ Man könnte „Trottel“ als zeitgenössischen Schelmenroman bezeichnen, voller Witz und sarkastischen Wortspielen, stünde da nicht auch eine Tragödie im Hintergrund dieser höheren, quasi autobiografischen Blödelei. „Manche Erkenntnisse habe ich in meinem Leben spontan im Terrain gewonnen, ohne sie später mühsam aus einem Prostata- oder Nasensekret extrahieren zu müssen.“
Schon die zwei Dutzend barocken Kapitelüberschriften darf man sich auf der Zunge zergehen lassen: „Patschulischock im Anmarsch“ oder „Karpfen- und Forellenteich – Ein Ödem auf Schmetterlingsratten, Darmhornissen, Ameisenhornochsen, Augapfelwürmer und Zungenbrecher“.
Aufgerollt, zerrissen und verquer wieder zusammengefügt werden noch einmal einige tschechoslowakische Kindheits- und Jugenderinnerungen, um die es in Faktors „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams“ schon einmal ging. Dann stehen wir am Prager Altstädter Ring vor den Trümmerresten des russischen Einmarsches von 1968. Auf Anraten seiner Tante, die den merkwürdigen Posten einer Abteilungsleiterin für „Marketing im Sozialismus“ innehat, beginnt der Erzähler ein Studium der Computerwissenschaften, was in der Praxis bedeutet: Erkenntnisse über „die führende Rolle der KPdSU bei der Berechnung des Toilettenpapierbedarfs der befreundeten Bruderstaaten im alltäglichen Katastrophenmodus“.
Dieser will allerdings überwunden werden, etwa durch „Standsaufen“ in Prager Weinschenken. Trotz strebenden Bemühens wird der Protagonist nicht zum studentischen „Jungalkoholiker“, schärft vielmehr seine Beobachtungsgabe, wovon der Erzähler noch ein halbes Jahrhundert später profitiert. Männer saßen da „halbarsch“ auf Barhockern und starrten ins Nichts. Das war die „sozialistische Peepshow“! Ausgeschenkt wird ein mährischer
Tropfen und dazu gesellt sich eine „Mährin“, die sich später als „vulval“ trocken erweist.
Der Erzähler gebietet seinem glitschigen Altherrenwitz rasch Einhalt, wechselt das Thema und erzählt etwa aus der Zeit, als das sozialistische Kantinenessen so manche Überraschung bot: einen filzigen Wischlappen, der in den Soßenkessel gefallen und stundenlang mitgekocht worden war. „Ich hatte aber Hunger und konnte trotz meiner relativ klaren Spontandiagnose nicht aufhören zu essen.“
Die Übersiedelung in die DDR erfolgt aus amourösen Gründen; was als mehrjährige Affäre mit einer Ostberlinerin beginnt, die von ihrem Ehemann ständig betrogen wird, endet mit einer Hochzeit – selbstredend an einem 1. April. Die „Deutsche rundumordnungsliebende Republik“ ist für den Undergroundautor wie geschaffen: „Die Schäbigkeit des Landes wurde mein Forschungsthema, und ich fühlte mich in Ostberlin sofort wie zu Hause, obwohl ich dort lange Zeit überhaupt kein Zuhause hatte.“ Schon an der Grenze hat er seine Freude an den Männern in Naziuniform: „Passkontrrrolle … -olle, -olle! PersonaldokumenTE … -enTE, -enTE, bütte!“
Als „Deutsche Reichsbananenrepublik“ wird das bezeichnet, und dennoch kommt die DDR bei Faktor nicht nur schlecht weg: Ostdeutsche machen aus einfachen Latten neue Möbel; ein Lob ergeht an klobige DDR-Fahrräder; der oppositionellen Dreifaltigkeit von Pfarrer, Kirche, Pogo fühlt sich der Erzähler ohnedies nahe, auch wenn den nachgeborenen Kindern des Westens erst der Sinn von „Underground“ erklärt werden muss: Es hatte eben nichts mit „radikaler Abgrenzung, konsequenter Kommerzferne oder einfach der Kampfansage an den Mainstream zu tun“, sondern bedeutete vielmehr, mit einem Fuß im Gefängnis zu stehen.
In Jan Faktors „Trottel“ ist für alles Platz: vom Gruppensex im Sozialismus („die vierte Matratzeninternationale“) über illegale Wohnungsdurchbrüche bis zur Hässlichkeit des Alexanderplatzes. Und auf beinahe mysteriöse Weise fügen sich all diese Abschweifungen zu einem Roman. Der Grund dafür ist nicht der Zwischenruf des Erzählers in eigener Sache, nur ja keinen „Wenderoman“ zu schreiben, sondern vielmehr die tragische Geschichte des Sohnes, der als junger Mann Selbstmord beging. Die das ganze Buch in immer neuen Anläufen durchziehenden Versuchen, darüber zu schreiben, sind das Auge im Sturm einer Erzählung von absoluter Phrenesie.