

Abfahrt als Ankunft: Die zweite Pubertät einer Frau
Christina Vettorazzi in FALTER 21/2024 vom 24.05.2024 (S. 28)
Sie nuckelt an seinem Finger. Er haucht: "Die besten Sekunden meines Lebens." Und setzt sich ein bisschen weiter weg, um sicherzugehen, dass er nicht doch versehentlich seine Partnerin betrügt.
Der Roman "Auf allen vieren" von Miranda July liest sich wie die Geschichte von zwei Teenagern. Die beiden vergebenen Hauptfiguren treffen sich heimlich in einem Hotelzimmer, eine halbe Fahrstunde vom Zuhause der Protagonistin entfernt. Sex haben sie keinen. Ihre Lust kompensieren die beiden mit allerlei schrägen Aktivitäten: Sie hält ihre Hand in die Toilette, als er pinkelt. Er wechselt ihren Tampon.
Die US-amerikanische Künstlerin July gewann mit ihrem literarischen Debüt "Zehn Wahrheiten" den renommierten Frank-O'Connor-Preis. Nun schrieb sie ihren zweiten Roman, der kaum anstößiger sein könnte: "Du behältst ihn doch in der Hose! Das machst du super, alles okay."
Die 45-jährige Protagonistin von "Auf allen vieren" versucht wirklich ein braves Leben zu führen. Sie vereint die Rollen der Künstlerin und Mutter und wünscht sich nichts sehnlicher als eine geerdete Persönlichkeit, zu der das normale Leben passt. Doch dann begegnet sie dem rund 15 Jahre jüngeren Davey.
Leidenschaft, einst ein Nebenschauplatz, mutiert zur Hauptsache. Ihre Libido wächst, während die namenlose Protagonistin auf ihre Wechseljahre zusteuert. Es ist also höchste Zeit, sie muss ihr Leben endlich leben.
Die Sprache des Romans ist vulgär. Ernste Themen wie Mutterschaft und das Älterwerden streut die Autorin ein, was die Geschichte teilweise überlastet und ausfranst.
Das Hauptproblem: Zwei Erwachsene, die sich wie Teenager verhalten, wirken unglaubwürdig. Wer nicht gerade selbst eine spätere Romanze erlebt hat, kann sich kaum eine zweite Pubertät vorstellen. Umso besser, dass dieses Buch existiert. Es zeigt, wie absurd Liebe sein kann.