

Friss die Hälfte: Eine toxische Ehe in den 1980er-Jahren
Kirstin Breitenfellner in FALTER 40/2022 vom 07.10.2022 (S. 32)
Jeder hat drei Leben: ein öffentliches, ein privates und ein geheimes. Mit dieser These eröffnet Daniela Dröscher "Lügen über meine Mutter"(der Titel lehnt sich an John Burnsides "Lügen über meinen Vater" an). Der Roman spielt in den Jahren 1983 bis 1986 in einem Dorf im deutschen Hunsrück.
Kanzler Kohl und die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl bilden den Rahmen eines Buches mit ungewöhnlicher Form; der Erzählfluss wird regelmäßig durch psychologische, soziokulturelle und ästhetische Reflexionen unterbrochen. Die Ich-Erzählerin Ela, ein Alter Ego der 1977 geborenen Autorin, befindet sich im Volksschulalter. Ihr naiver Blick bezeugt die täglichen Streitereien ihrer Eltern, bei denen der Vater als Aggressor auftritt.
Es geht vor allem um das Gewicht der Mutter. Die Figur seiner Frau passt dem an seinem sozialen Aufstieg Arbeitenden nicht ins Konzept. Er zwingt sie zu Diäten, droht, schämt sich, macht sie gar für seine stagnierende Karriere verantwortlich: "Ein Mann ohne eine vorzeigbare Frau würde eine solch gehobene Stellung niemals bekommen."
Die Mutter lässt sich von den Demütigungen nicht beugen. Zwar gibt sie mit dem zweiten Kind die Berufstätigkeit auf, aber sie erbt Geld, über das sie frei verfügen kann. Auch sie hat ihre Abgründe. Der Vater hingegen bleibt ein gemeiner, aber unsicherer Patriarch. Stilistisch irritieren zunächst die kursiv gesetzten Sprachschablonen. "Die Sommerferien standen vor der Tür.""Jetzt platzte meiner Mutter der Kragen." Ihre Eltern hätten sich an solchen Redewendungen wie an einem Geländer festgehalten, bemerkt die Autorin. Im Laufe der Lektüre gewöhnt man sich daran.
Mit ihrem dritten Roman, der aktuell auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht, ist Dröscher eine bedrückende Studie über Machtverhältnisse, Lügen und Geheimnisse gelungen -und ein bewegendes Denkmal für eine willensstarke und großherzige Frau.