

Was hat uns bloß so ruiniert?
Klaus Nüchtern in FALTER 38/2022 vom 23.09.2022 (S. 35)
Mit seinem vielbeachteten und hochgelobten Roman "Die Welt im Rücken" (2016), der die eigene bipolare Störung thematisiert, schaffte es der aus Bonn gebürtige Thomas Melle auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Mit dem Nachfolger "Das leichte Leben" verlässt der Autor, Jahrgang 1975, nun die reich bestellten Gefilde des autofiktionalen Schreibens und wendet sich der zeitkritischen Diagnose zu.
Es beginnt mit vögelnden Vögeln (der entsprechende Kalauer wird leider nicht ausgelassen), wenige Seiten später geht es auch im Zweibeinermilieu zur Sache -oder eben auch nicht, denn: "Der Clown kam nicht. Er pumpte und pumpte, aber umsonst, und auch Kathrin blieb bis auf Weiteres unerlöst." Auch in der maskierten Anonymität der Sexparty "in einer schnöden, schönen Eigentumswohnung" bleibt das reale Gevögel hinter der imaginierten Geilheit zurück, die Protagonistin hätte andere Reize gebraucht, "alberne, dreckige Entsaftungssprüche aus den Darkrooms ihres Bewusstseins [...], am besten auf Sächsisch".
Während Kathrin ungeschützten Sex hat und sich die entsprechende Aids-Panik einhandelt, beschränkt sich ihre in einer polyamourösen WG lebende Freundin aufs Zuschauen. Die Dialektik von Schauen, Zeigen, Verbergen und Entblößen in einer von der Ökonomie der Schauwerte bestimmten Gesellschaft ist denn auch das Thema dieses Romans.
Tut sich die Elterngeneration der Fortysomethings noch in den Sphären von Feuilleton und Boulevard-TV um, tummeln sich die Kiddies auf Insta, TikTok &Co, deren Potenzial sie fleißig zum Shaming und Doxxing nutzen; Letzteres bezeichnet - so lässt der Erzähler seine großteils wohl post-juvenile Leserschaft wissen -die Praxis, personenbezogene Daten öffentlich zu machen und anonyme Netzidentitäten in schädigender Absicht mit Klarnamen zu versehen.
Seinen ostentativen Anspruch auf Zeitgenossenschaft macht Melles Roman dadurch geltend, dass er die Diskrepanz zwischen den Generationen im Aneinandervorbeireden offenkundig macht, was im besten Falle bösen Witz generiert. In einer der überzeugendsten Szenen des Romans improvisiert Kathrin, die als ehemalige Bestsellerautorin mit It-Girl-Potenzial mittlerweile Deutsch und Geschichte unterrichtet, im Klassenzimmer eine Einheit Ethikkunde: "Und, nur damit ihr's wisst [...], vor die Wahl gestellt, würde ich immer lieber Opfer als Täter sein."
Adressat der in zunehmender rhetorischer Selbstberauschtheit vorgetragenen Brandrede ist Keanu, der Neue in der Klasse, der eine Mitschülerin als "Opfer" bezeichnet haben soll. Unter vier Augen zur Rede gestellt, beteuert er freilich seine Unschuld und klärt die um Achtsamkeit bemühte Pädagogin darüber auf, dass sie insultationstechnisch nicht auf dem neuesten Stand sei: "Es sagt keiner mehr ,Opfer'.""Und was sagt man stattdessen?"",Du Jude.'"
Klischees, so hat sich der Autor wohl gedacht, wollen genutzt werden, und so beginnt es zwischen der hotten Milf-Lehrerin und dem seinem Namensgeber Keanu Reeves auch noch ähnlich sehenden Burschen mit nicht restlos geklärtem Migrations-und Problemjugendlichenhintergrund, der selbstverständlich auch ein Auge auf Kathrins Tochter geworfen hat, bald zu knistern.
Währenddessen vögelt Kathrins Gatte die Praktikantin seiner TV-Redaktion und rätselt darüber, wer ihm die Fotos, die ein offenbar pädophil veranlagter Pater in seiner Schulzeit von ihm gemacht hat, aufs Handy schickt -und was er damit bezweckt. Auf diese Weise wird ein dunkles, diffus dräuendes Panorama entworfen, das die Gegenwart, die Gesellschaft und die Medien in den Blick zu nehmen vorgibt, anstatt sich um einen nur halbwegs plausiblen Plot zu kümmern.
Den entsprechenden Mangel trachtet Melle durch eine haltlos überinstrumentierte Rhetorik zu camouflieren. So wird Keanu allen Ernstes als "Unfigur in einem 3-D-Höllensimulator namens Welt" beschrieben, "mit einem Herzen aus brodelndem Pixelstahl und einem saumäßigen Energielevel, der gerade so low war, dass er kaum gehen konnte".
Das Energielevel des Pathos hingegen ist hoch und treibt den Roman auf ein Finale mit Katharsis, Tod und Erlösung zu. Es geht einem bloß leider wie mit den Protagonisten -nämlich hinten am Arsch vorbei.