

PUNK ON
Gerhard Stöger in FALTER 50/2022 vom 16.12.2022 (S. 36)
Kunstwerk, Spekulationsobjekt, Sammlertraum, Krawall von zeitloser Schönheit, enervierender Schrott: Wer über Punksingles spricht, kann das auf vielfältige Art tun. Dabei geht es stets um dasselbe: ein in mehr oder weniger buntes Papier verpacktes Stück flachgepressten Kunststoffs, in dessen Rillen Musik konserviert ist. Ein prächtiges neues Buch bittet nun in die Welt dieser kleinen Scheiben. Jon Savage, Autor des Standardwerks "England's Dreaming - Anarchy, Sex Pistols, Punk Rock, and beyond", und Stuart Baker, Gründer des exzellenten Londoner Plattenlabels Soul Jazz Records, haben hunderte dieser kleinen Schallplatten gesammelt und visuell erlebbar gemacht.
"Punk 45", 2013 erstmals erschienen und soeben neu aufgelegt, hält sich eher zurück mit detaillierter Geschichtsschreibung und popanalytischer Gschaftlhuberei zu dieser letzten großen Rock-Rebellion. Stattdessen feiert es das Artwork von Punksingles der Jahre 1975 bis 1980 in all ihrer Vielfalt; Texte von Zeitzeugen -Musiker, Labelbetreiber, Künstler -ergänzen den visuellen Rausch. Denn Punk sorgte auch optisch für einen radikalen Wandel: Biedere Bandfotos und dezente Farben hatten schlagartig ausgedient.
Punk, Mitte der 1970er-Jahre in den USA und Großbritannien entstanden, ersetzte Handwerk durch Kreativität und lieferte über die Musik hinaus Innovationsimpulse für Medien, Mode und Design. Dem recht konventionellen Punkrock folgten New Wave, Postpunk und unzählige Subspielarten, bis heute hallt dieser bald 50 Jahre zurückliegende Urknall in vielen Popsubkulturen nach.
Dabei wirkte Punk ursprünglich extrem schnelllebig, passend dazu war die Single auch wichtiger als das Album. Ein handlicher und günstig zu produzierender Tonträger, der meist nur zwei Lieder enthielt, bisweilen auch einige mehr. Die englische Band Joy Division etwa hat 1978 vier Songs auf ihrer Debütsingle untergebracht; Sammler zahlen für "An Ideal for Living" heute rund 4000 Euro. In kleiner Auflage erschienen und von der Band selbst verpackt, ist das Cover nicht geklebt, sondern gefaltet, die Schwarz-Weiß-Ästhetik so stark wie irritierend: Ein Hitlerjunge trommelt den Marsch. Provokation war ein gängiges gestalterisches Element der Punkkultur: Malcolm Garrett illustrierte den Buzzcocks-Song "Orgasm Addict" mit der Collage einer nackten Frau, ihre Brüste grinsen und ein Bügeleisen ersetzt ihren Kopf; Jamie Reid spielte für die politisch aufgeladenen Sex-Pistols-Hüllen sein Wissen um Situationismus und Dada aus, kombiniert mit gutem Humor; die Band Girls At Our Best stellte lieblich gezeichnete Frauen ans Pissoir.
Anderswo regierte der Minimalismus: Peter Saville verpasste dem Label Factory eine unverkennbare Ästhetik der Reduktion, Barney Bubbles wiederum zitierte für ein frühes Cover der Band Generation X die Zeichensprache des Konstruktivismus. Schade nur, dass die Auswahl der - meist in Originalgröße abgebildeten -Cover etwas beliebig wirkt, die Beschriftung uneinheitlich ist und einzelne Texte mitten im Satz abreißen. Schön ist dafür, dass die Herausgeber den Begriff "Punk" weit fassen. Auch historische Vorläufer sind vertreten: Von Iggy Pops Quartett The Stooges zeigen sie ein nur in Frankreich erschienenes Cover, von Patti Smith die seltene italienische Hülle ihrer Debütsingle.
Apropos Patti Smith: Das neueste Werk der 75-jährige Patin des Punk sollte auch Menschen ohne jegliches Pop-Interesse Freude bereiten. "Buch der Tage", maximal schnörkellos betitelt, zeigt Fotos, die die Sängerin, Autorin und Künstlerin zusammengetragen, geschenkt bekommen und vor allem auch selbst gemacht hat. Eines für jeden Tag des Jahres, inklusive 29. Februar.
Bisweilen launige, manchmal sachliche, oft aber poetisch-informative, herrlich leidenschaftliche und von ansteckender Begeisterung geprägte Kurztexte begleiten die Bilder. Sie durchmessen Smiths künstlerisches und aktivistisches Universum, bieten jedoch auch alltäglichen Kleinigkeiten Platz. Dem Chaos im Arbeitszimmer vorm Putzen etwa oder einem Liebesgruß an ihre Hauskatze Cairo.
Greta Thunberg und Yoko Ono gratuliert die Musikerin ebenso zum Geburtstag wie Kurt Cobain und Franz Kafka; an Gräbern berühmter Personen beobachtet sie Details, um dann wieder von der österreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer zu schwärmen. Lachen ist dabei nicht verboten: Der Schnappschuss zum 31. Oktober zeigt William S. Burroughs, flankiert von einem selbstgeschnitzten Halloween-Kürbis.
"An nichts denken", steht am 29. Jänner unter einem Foto der alten Patti Smith, in sich gekehrt auf einem Sessel sitzend. "Ich erinnere mich, das meine Mutter so dasaß. Ich fragte sie: Was ist los, Mommy? Und sie erwiderte: Ach, nichts. Inzwischen weiß ich, was nichts ist."