

Der Wandfarbenguru und das Waisenmädchen
Sebastian Fasthuber in FALTER 12/2025 vom 21.03.2025 (S. 14)
Vor 30 Jahren debütierte der Schweizer Christian Kracht, damals 28, mit dem Roman „Faserland“. Er schickte seinen jungen Helden auf eine Deutschlandreise und brachte einen neuen Ton in die deutschsprachige Literatur. Der klang weniger cool als vielmehr teilnahmslos und ennuiert. Hier war er, der gnadenlos oberflächliche Bret Easton Ellis unserer Breiten, der über Hedonismus und Verfall nachdachte.
Während sich sein US-amerikanischer Bruder im Geiste treu blieb und bis heute Aufgüsse seiner frühen Romane produziert, ist Kracht ein anderer geworden. Schon mit seinem zweiten Roman „1999“ brach er aus der Popliteraturschublade, schrieb sich frei. Mit faszinierend-verstörenden und schwer deutbaren Romanen wie „Imperium“ gelang es ihm in der Folge, ein Geheimnis zu kultivieren.
Es existieren viele Meinungen über Kracht. Manche halten ihn für einen der letzten Ästheten, dem Stil alles, der Inhalt jedoch wenig bedeute; andere sehen in ihm einen Zyniker oder gar einen Rechten auf den Spuren Ernst Jüngers. Ihn selbst scheint all das wenig zu kümmern, er lässt sich nicht in die Karten blicken und liefert keine Erklär-Interviews.
Zuletzt schloss Kracht mit „Eurotrash“ doch noch einmal an seinen Debütroman „Faserland“ an und versuchte sich an einer Familienaufstellung. Der Roman führte in ein Spiegelkabinett der Identitäten und trieb mit Fakten und Fiktion ein lustvoll-perfides Spiel.
Sein jüngstes Werk „Air“ beginnt mit der arg gespreizten Beschreibung eines Zimmers: „Die spitz zitternden Schatten eines Bündels Schilfgräser, das drüben auf der Fensterbank aus einem Krug ragte, huschten unmerklich über die Gummistiefel, dann über ein weiteres paar Schuhe.“
Uff! Zum Glück geht es in dieser Tonart nicht weiter. Was auch immer Kracht bei der Eröffnungssequenz, in der wir den an der schottischen Küste lebenden Schweizer Paul kennenlernen, geritten haben mag, er schwingt sich schnell auf einen eleganten, aber auch wohltuend klaren Ton ein. Die Welt, die er in seinem jüngsten Roman entwirft, ist verrückt genug.
Paul verdient sein Geld als Dekorateur. Er richtet Wohnungen ein – allerdings nur für die Maklerfotos, danach wird das Zeugs wieder verräumt. Freilich gefallen seine Ideen den meisten Käufern so gut, dass sie die Möbel auf den Fotos gern haben würden. Zuletzt hat Paul sich als Wandfarbenguru einen Namen gemacht.
Auf Einladung eines norwegischen Designmagazins reist er nach Stavanger. Paul soll im Auftrag einer von ihm sehr geschätzten Zeitschrift das perfekte Weiß finden. Bei einem ersten Treffen entpuppt sich der Herausgeber namens Cohen jedoch weniger als feingeistiger Ästhet denn als Verfechter radikaler Ideen.
Sein jüngstes Steckenpferd ist das slawische Neuheidentum. „Er schiebe die Zeitschrift und deren dubiosen Ästhetizismus nur vor“, gesteht Cohen seinem Gegenüber, „um seine wirklichen Interessen hinter Tontöpfen, pittoreskem Strandgut und alten Fahrrädern auf den Shetlands zu verbergen. Und natürlich hinter den lieben Mütterchen, die auf entlegenen irischen Inseln abends die letzten authentischen Schafwollpullover zusammenstricken, die mit den großen weichen Krägen aus dem Film mit Colin Farrell neulich.“
Abgesehen von dieser Spitze gegen Bobo-Lifestyle sowie ein, zwei Bemerkungen über eine „Welt aus beschämender Distanzlosigkeit“ hält sich Kracht nicht lange mit der Realität auf und etabliert stattdessen zusehends eine Fantasiewelt, die einer Traumlogik zu folgen scheint.
Ein zweiter Handlungsstrang ist irgendwo in einer fernen Vergangenheit angesiedelt. Ein in einer Waldhütte wohnendes Waisenmädchen verwechselt bei der Jagd einen Mann mit einem Wildtier und verwundet ihn schwer. Nachdem sie ihn halbwegs gesund gepflegt hat, müssen die beiden vor einem bösen Herzog fliehen. Ihr Weg führt sie in Richtung Eismeer.
Im Wechsel zwischen den beiden Zeitenebenen nähert Kracht die beiden Stränge einander an. Offenbar handelt es sich bei dem Mann aus grauer Vorzeit um eine frühere Version von Paul. Ein bisschen Gegenwart hat er aber auch im Gepäck: Die Soldaten des Herzogs beschießt er mit einer Pistole aus dem 3D-Drucker.
Auch Cohen taucht in dieser Welt ein und dringt immer weiter ins Eis vor: „Die Kälte des Eises, das stetig anwuchs und bald den gesamten Planeten bedecken würde, ängstigte ihn nicht so sehr wie die grausame weiße Einsamkeit, die bleiche Leere, die ihn aus allen Himmelsrichtungen umringte. Genauso gut hätte er in die entgegengesetzte Richtung rennen können, es machte nichts, es war alles gleich furchterregend und kristallin und hoffnungslos. […] Er atmete durch die Nase ein, und wenn er den Mund aufmachte, um Luft zu holen, war es, als lägen ihm offene Rasierklingen im Gaumen.“
Kracht gelingen eindringliche Bilder einer Parallelwelt, die sich nicht einfach als Dystopie verstehen lässt. Sie ist zwiespältig: voller grausamer Taten, aber auch immer erhellt von der Güte Einzelner; karg und nur unter größten Anstrengungen bewohnbar, was die Menschen jedoch zu erfüllen scheint und zufrieden wirken lässt.
„Air“ entpuppt sich als wilde Mischung aus Abenteuerroman, Fantasy und Abgesang auf eine immer unübersichtlichere, aber zugleich flache Welt und erinnert ein wenig an die Filme von David Lynch. Der Roman widersetzt sich gängiger Logik, er ist voller merkwürdiger Geschehnisse, Schrecken und Traumfantasien, Spiegelungen, abgewandelter Motive und Echos. Man kann ihn als literarisches Rätsel verstehen, oder man genießt einfach den Ritt.