

Bis es wehtut und noch ein bisschen weiter
Gerhard Stöger in FALTER 7/2023 vom 17.02.2023 (S. 33)
Fad oder nicht? Schlau oder bemüht? Denkanstoß oder Wichtigtuerei? Die Qualität eines Romans offenbaren oft schon seine ersten Seiten. Virginie Despentes klopft nicht zurückhaltend an, sie öffnet die Tür mit dem Brecheisen.
Eitelkeit und Langeweile sind der Französin fremd, und an die Stelle sprachlichen Zierrats treten auch in ihrem exzellenten neuen Roman "Liebes Arschloch" kurze, markante Sätze, die nicht selten die Wucht von Faustschlägen haben. Obendrein würden sie wunderbare T-Shirt-und Kalendersprüche abgeben; haltungsstark, unmissverständlich und direkt. Um Social-Media-Irrsinn, Drogen und Machtverhältnisse geht es da, Me-Too, feministische Debatten und die Pandemie, verhärtete Positionen und Selbstreflexion.
Despentes schreibt einmal mehr, wie ihr seit Jahren verwendetes Pressefoto aussieht: In einem Trägershirt der Hardrockband Motörhead posiert sie da, Zigarette im Mund, der Gesichtsausdruck abgeklärt und angriffslustig zugleich. "No Bullshit!" lautet die visuelle Botschaft. Es ist ihre zentrale Maxime.
1969 geboren, wurde die mit ihrer Lebensgefährtin mal in Paris, mal in Barcelona lebende Schriftstellerin gleich für den 1994 erschienenen Debütroman "Baise-moi" zur Skandalautorin stilisiert: Am Beginn steht darin eine brutale Vergewaltigung, am Ende eine quer durch Frankreich gezogene Spur der Verwüstung.
Der autobiografische Langessay "King Kong Theorie" beeindruckte 2006 als furiose feministische Streit-und Kampfschrift; "Das Leben des Vernon Subutex" (2015-2017) machte Despentes zum Star. Popkulturell kundig und geprägt von der Liebe zum Detail ,erzählt die Trilogie von einem Pariser Plattenhändler, der in der Obdachlosigkeit landet und in ein Abenteuer stolpert, das nicht nur seine Welt nachhaltig verändert.
Der E-Mail-Roman "Liebes Arschloch" ist formal wie inhaltlich ein radikaler Gegenentwurf. Führte "Subutex" vom kapitalismuskritischen Abstiegsdrama in eine Art märchenhafte Parallelwelt, setzt der Nachfolger auf maximalen Realismus.
Und benötigte "Subutex" ein Personenverzeichnis, um das üppige Personal überblicken zu können, genügen "Liebes Arschloch" drei Hauptfiguren: der erfolgreiche Autor Oscar Jayack, die berühmte Schauspielerin Rebecca Latté und die junge feministische Bloggerin Zoé Katana. Oscar und Rebecca haben ihre Lebensmitte bereits überschritten, entstammen einem ähnlichen Working-Class-Milieu und kannten einander in jungen Jahren. Dazu kommen in Nebenrollen Oscars ältere Schwester, eine lesbische Aktivistin, und seine Teenagertochter; Oscars Beziehung zu beiden ist gelinde gesagt verbesserungswürdig.
Zoé machte einst Pressearbeit für ihn, er verliebte sich unglücklich in sie. Was Jayack für einen missglückten intensiven Flirt hielt, war für sie Übergriffigkeit an der Grenze zum Stalking; sie lebte in ständiger Angst und verlor schließlich den Job.
Jahre später prangert Zoé ihn öffentlich als Täter an, der Shitstorm ist so heftig wie die folgende Polarisierung. Oscar versteht die Welt nicht mehr, flüchtet sich wie gewohnt in den Koksrausch und nimmt, maximal deppert, per unflätigem Instagram-Post Kontakt mit Rebecca auf.
"Liebes Arschloch", schreibt sie in ihrer Antwort, "ich hoffe, dass deine Kinder von einem Lastwagen überfahren werden und du ihren Todeskampf mitansehen musst, ohne etwas tun zu können, und dass ihnen die Augen aus den Höhlen spritzen und ihre Schmerzensschreie dich jeden Abend verfolgen." Es ist, Schmäh ohne, der Beginn einer wunderbaren (Brief-)Freundschaft, verstärkt durch die unvermittelt hereinbrechende Pandemie. Noch nicht einmal die spätere Annäherung Rebeccas an Oscars MeToo-Anklägerin Zoé vermag ihre Beziehung nachhaltig zu erschüttern.
Oscar wird zu den Narcotics Anonymous gehen und sein Leben mehr oder weniger in den Griff bekommen; er wird abwägen, die Perspektive ändern und eine verletzliche Vielschichtigkeit offenbaren. Er wird erkennen, dass Wahrheit etwas sehr Subjektives ist, und merken, dass selbst tief empfundene Entschuldigungen Verletzungen nicht ungeschehen machen.
Auch Rebecca, die sich seit frühesten Teenagertagen regelmäßig "wegballert" und mit Heroin und Crack auf du und du ist, wird irgendwann clean; es hat mit ihrer subversiven Art und dem Lockdown zu tun. Dabei kommentiert Rebecca Oscars Bemühungen anfangs noch ganz eindeutig: Sie käme so gut mit den Drogen klar, dass es schade wäre, darauf zu verzichten, schreibt sie ihm, und, mit einem dieser alternativen Kalendersprüche: "Lieber verrecken als Yoga machen." Dass es anders kommt, mag man dem Buch als kleine Schwäche ankreiden, wer bereits beim leisesten Kitschverdacht rot sieht. Die beiläufige Coolness freilich, mit der diese so schlaue wie reflektierte Frau doch von den Drogen lässt, wirkt durchaus schlüssig.
Zoé Katana schließlich hat die Arschkarte gezogen. Der rechte Web-Mob beschert ihr einen psychischen Zusammenbruch, und irgendwann kommt sie auch noch unter die Räder feministischer Positionskämpfe. An ihrem streitlustigen Netz-Aktivismus hält sie dennoch fest.
Das Beziehungsgefüge zwischen den Figuren bleibt komplex, Despentes begegnet jeder einzelnen voll Empathie. Sie erzählt nicht nur eine spannende aktuelle Geschichte, sondern liefert im geschickten Umgang mit Ambivalenz zugleich auch ein schlaues Plädoyer für die hohe Kunst der Ambiguitätstoleranz.
Fast schon rührend humanistisch, empfiehlt sie einen Schritt zurück, um dadurch aufeinander zuzugehen. "Liebes Arschloch" handelt so von einer Schlüsseltugend unserer Zeit: dem Versuch, im Gespräch zu bleiben.