

England gibt es gar nicht
Klaus Nüchtern in FALTER 44/2023 vom 03.11.2023 (S. 29)
Sie habe England den Rücken gekehrt, so erklärte Zadie Smith unlängst in einem Artikel für den New Yorker, weil sie einerseits ihre Rolle als "multikulturelles Wunderkind" satthatte, die sie seit ihrem Debüt "Zähne zeigen" (2000) nicht mehr losgeworden war, und weil sie andererseits keinen historischen Roman schreiben wollte wie alle ihre im Lande verbliebenen Kollegen.
Nach 17-jähriger Abwesenheit ist Smith nun aus den USA nach London zurückgekehrt und legt einen historischen Roman vor, in dem sie sich durch das Viktorianische Zeitalter zappt. Als roter Faden dient ihr dabei der sogenannte "Tichborne Case", der in den 1860er-und 1870er-Jahren für heftige Debatten und reges mediales Interesse sorgte: Ein als Thomas Castro oder Arthur Orton bekannter Mann, dem Anschein nach Sohn eines Fleischers aus dem Londoner East End, behauptete, in Wirklichkeit der seit zwölf Jahren verschollene und vermeintlich ertrunkene Sir Roger Tichborne zu sein, und erhob damit Anspruch aufs Familienerbe.
Bestätigt wird die Authentizität dieser augenscheinlich doch recht dreisten Behauptung von Roger Tichbornes Mutter, wohingegen das Gros der Familie im "Anwärter", wie er hinfort genannt wird, bloß einen Erbschleicher erblickt. Als Zeuge für die Wahrhaftigkeit des Anwärters tritt des Weiteren Andrew Bogle auf, der zunächst als Sklave auf einer Zuckerrohrplantage in Jamaica schuftet, sich danach als Dienstbote auf dem englischen Gut der Tichbornes verdingt.
Ein solches Setting ist für Zadie Smith, die sich immer schon für die im Zusammenspiel von Class, Race und Gender generierten Macht-und Ausschließungseffekte interessiert hat, naturgemäß ein gefundenes Fressen. Bogle, über den lediglich bekannt ist, was dieser in den Vernehmungsprotokollen preisgegeben hat, aus denen wörtlich zitiert wird, repräsentiert in "Betrug" die dunkle Geschichte des Britischen Weltreichs.
Dass dessen Reichtum und Aufstieg zur Weltmacht auf brutalster Ausbeutung beruhte, war freilich kein Geheimnis und selbst manchen Nutznießern bewusst. Viele von ihnen engagierten sich für die Abschaffung der Sklaverei, die mit dem Slavery Abolition Act von 1833 dem Gesetz nach tatsächlich verboten wurde (ohne deswegen am Elend der angeblich "Befreiten" notwendig etwas zu ändern).
Zu diesen "Abolitionisten", wie sie genannt werden, zählt auch die Protagonistin des Romans. Historisch ebenfalls verbürgt weiß man über diese Eliza Touchet aber kaum mehr, als dass sie die Cousine des heute so gut wie vergessenen Schriftstellers William H. Ainsworth und Adressatin eines Widmungsexemplars von Charles Dickens' "Christmas Carol" war, das 2009 für 290.500 Pfund versteigert wurde.
Die großen Lücken in Touchets Biografie nutzt Zadie Smith, um ihrer literarischen Fantasie freien Lauf zu lassen. Und sie tut dies auf brillante Weise. Von ihrem Tunichtgut von Gatten samt Kind früh verlassen, fristet "the Targe", wie die auffallend große, ebenso kluge wie empfindsame und humorbegabte Frau genannt wird, ein Dasein an der Peripherie eines Zelebritäten-Zirkels. Diesem gehören neben Dickens und ihrem Cousin, der diesen in jungen Jahren an Erfolg sogar überflügelt, auch noch der Schriftsteller William Thackeray und der mieselsüchtige Karikaturist George Cruikshank an.
Dem "Tichborne Case" weiß Smith auffällige Parallelen zur Gegenwart abzugewinnen: Wie die sattsam bekannten Populisten von heute geriert sich der "Anwärter" als jemand, der vom "Establishment" und der "Lügenpresse" verunglimpft wird, weil er ein Mann des Volkes ist. Dass dies in krassem Widerspruch zu dessen angeblich adeliger Abkunft steht, fällt nur der scharfsichtigen Protagonistin auf, die sowohl zu ihrem haltlos egozentrischen, aber doch liebenswerten Cousin als auch zu dessen vernachlässigter ersten Ehefrau eine kurze, aber lange nachklingende amouröse Beziehung unterhält.
Leider geht "the Targe" zwischenzeitlich für 100 Seiten verloren, auf denen Smith die Leserschaft dafür mit einem Hagelschlag an historischen Hinweisen überrumpelt und die Lebensgeschichte von Andrew Bogle ebenso langatmig wie detailfreudig ausbreitet. Dennoch bleibt der angeblich so charismatische Mann eine recht flache Figur, die vor allem würdevoll sein darf, der Autorin aber allzu oft als Sprechpuppe für gesellschaftskritische Kommentare dient. Auch die sind bei Mrs. Touchet besser aufgehoben, etwa wenn diese des Umstands gewahr wird, dass England eigentlich nicht existiert: "Hier gab es bloß Dinnereinladungen, Internate und Konkurse. Alles andere, alles, was Engländer wirklich taten und wirklich wollten,[ ] taten sie anderswo.