

"Ein Sommer, eine Familie. Ich hasse dich"
Stefanie Panzenböck in FALTER 7/2025 vom 14.02.2025 (S. 27)
Mein Vater hat meine Mutter unter Drogen gesetzt und sie dann von Unbekannten vergewaltigen lassen. Dieser Satz ist völlig aberwitzig", schreibt Caroline Darian. Sie ist die Tochter von Gisèle Pelicot, jener Frau, die über ein Jahrzehnt hinweg von ihrem Mann betäubt und anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten worden war. Sie ist die Tochter von Opfer und Täter. "Und ich werde dich nie wieder Papa nennen" ist ein beeindruckender Bericht in Form eines Tagebuchs über die Zeit vor der Verhandlung. Gerade durch ihre nüchterne Sprache gelingt es Darian, das Unsagbare in Worte zu fassen.
Im Dezember vergangenen Jahres sprach das Gericht sein Urteil. Dominique Pelicot wurde zur Höchststrafe, nämlich 20 Jahre Freiheitsstrafe, verurteilt. 51 seiner Mittäter erhielten Strafen zwischen drei und 15 Jahren.
Das Aufsehenerregende an diesem Prozess war nicht nur die Monstrosität der Taten, sondern auch, dass er öffentlich geführt wurde. Auf Wunsch von Gisèle Pelicot. "Die Scham muss die Seite wechseln", sagte sie und trat damit für alle Opfer der "chemischen Unterwerfung" ein, also jene Menschen, die betäubt wurden und werden, damit sie sich nicht mehr gegen Übergriffe wehren können.
Caroline Darian ist eine weitere Protagonistin in diesem Fall. Ihre Rolle gestaltet sich jedoch diffiziler. Es gibt zwar Fotos, die darauf hindeuten, dass ihr Vater auch ihr sexuelle Gewalt angetan haben könnte. Für einen Beweis vor Gericht reichten sie aber nicht aus.
"Und ich werde dich nie wieder Papa nennen" wurde 2022 in Frankreich veröffentlicht, Anfang des Jahres erschien das Buch nun auf Deutsch.
Darian, leitende Angestellte, glücklich verheiratet, dokumentiert, wie alle Gewissheiten zerfielen. Am 2. November 2020 hörte ihr Ehemann eine Nachricht von Gisèle Pelicot auf seinem Handy ab. Für die Mutter war es unerträglich, ihre Kinder direkt mit den erschütternden Nachrichten zu konfrontieren. Deshalb suchte sie den Weg über den Schwiegersohn.
Dass Dominique Pelicot überhaupt aufflog, ist zwei Frauen zu verdanken, denen er im Supermarkt unter den Rock gefilmt hatte und die diese Tat sofort zur Anzeige brachten. Die Polizei beschlagnahmte Pelicots Handy, weitere SIM-Karten, Laptop, Camcorder. Darauf fanden sie an die 20.000 Videos und Fotos, von Pelicot selbst aufgenommen, akribisch geordnet und beschriftet. Sie zeigen seine reglos auf dem Bett liegende Frau und Unbekannte, die sie vergewaltigen.
Darian erzählt Schritt für Schritt, wie die familiäre Welt zusammenbrach, und webt Kindheitserinnerungen in den Text. Aus diesen Passagen sprechen Fassungslosigkeit und Wut. "Du machst Feuer unter deinem kleinen Grill und wirfst das Grillgut auf den Rost, du hebst den Kopf und lächelst mir zu. Um uns herum reflektieren die Mauern aufs Schönste die herrliche Sonne, die uns allen gute Laune macht. () Eine Terrasse, ein Sommer, eine Familie. Ich hasse dich."
Die Autorin rekonstruiert, wann ihre Mutter in der Vergangenheit unüblich müde gewesen war und Erinnerungslücken hatte. Ihr Vater tat das damit ab, dass sie eben zu aktiv und deshalb überanstrengt gewesen sei. Dabei hatte er ihr Betäubungsmittel ins Essen oder in den Kaffee gemischt.
Darian berichtet von den Vernehmungen, in denen sie jedes Mal aufs Neue auf Grausamkeiten ihres Vaters angesprochen wurde. Einmal fragte sie einen Polizeibeamten, ob ihr Vater Reue gezeigt habe. "Nein", antwortete dieser. "Ihr Vater hat sich einfach nur bei mir bedankt, ich hätte ihm ,eine Last abgenommen'."
Auch die Konflikte zwischen ihr und ihrer Mutter macht Darian zum Thema. Während Gisèle Pelicot wie eine "mittelalterliche Königin" auftrat, ruhig, mit erhobenem Haupt, reagierte sie selbst ganz anders, ließ ihren Emotionen freien Lauf. Dass Darian selbst von ihrem Vater vergewaltigt worden sein könnte, wies die Mutter bei allem, was ihr selbst zugestoßen war, zurück. "Für sie ist das undenkbar, und ich verstehe sie", schreibt Darian. "Aber zugleich mache ich ihr Vorwürfe, dass sie nicht bereit ist, meine Zweifel anzuerkennen und meine Wut und meinen Schmerz zu hören." Die beiden Frauen fanden wieder zusammen.
Der Wille, das Unerträgliche zu überleben, spricht aus jedem von Darians Sätzen. Jedes der kurzen Kapitel wirkt wie ein Pflock, den die Autorin einschlägt, um wieder Halt zu finden. Es ist bewundernswert, mit welcher Klarheit sie die Dinge einordnet, zu einer Zeit, als sie noch mitten im Strudel der Ereignisse war.
Darian blickt über ihre private Tragödie hinaus. Sie gründete die Initiative "M'endors pas" (Betäube mich nicht), um gegen die chemische Unterwerfung vorzugehen. Das Gesundheitspersonal müsse besser geschult werden, um Anzeichen einer solchen Vergiftung zu erkennen. "Es geht darum, ein persönliches Trauma in einen kollektiven Kampf zu verwandeln", schreibt Darian.
"Und ich werde dich nie wieder Papa nennen" bleibt nicht das einzige Buch Darians. Anfang März wird in Frankreich ein weiteres, dieses Mal über den Prozess, erscheinen. Auch ihre Mutter plant eine Veröffentlichung. Die beiden arbeiten daran, dass das, was passiert ist, nicht vergessen wird. Sie sollten es nicht allein tun müssen.