

Ich komme mir irgendwie bekannt vor
Daniela Strigl in FALTER 42/2009 vom 14.10.2009 (S. 27)
Souverän erzählt Kathrin Schmidt vom Versuch einer Frau, die eigene Souveränität wiederzugewinnen
Als Geschenk für Hypochonder ist dieses Buch definitiv nicht geeignet. Es erzählt die Geschichte einer 44-jährigen Frau, die eines Tages vom Geräusch klappernden Bestecks erwacht und sich in der Küche ihrer Eltern glaubt. In Wirklichkeit ist sie, was ihr noch längere Zeit nicht klar wird, im Spital. Verkabelt, bewegungsunfähig, der Sprache nicht mächtig – was ihr in den Sinn kommt, ist Englisch. Sie weiß nicht, wer genau sie ist und was mit ihr passiert ist. Sie hat Angst – Angst, ferngesteuert zu sein. Immerhin freut sie sich über Besuch: "Die kennt sie. Es sind ihre Söhne. Deren Namen wollen ihr zwar nicht einfallen, aber das macht jetzt nichts. Sie glaubt, sie lacht."
Helene Wesendahl (ja, "Helene" kommt ihr bekannt vor) erfährt, dass sie eine Hirnblutung als Folge eines geplatzten Aneurysmas hatte, zweimal operiert wurde. Ihr erstes Wort ist "Matthes", so heißt ihr Mann, sie sagt "Mads": "Er versteht es! Ihr Ehrgeiz ist entfacht. Bist Eulen?, fragt sie ihn. Er guckt. Überlegt er? Ruft plötzlich: Ja, bin Eulen! Ja, ja! Sie könnte nicht Jandl sagen, denkt sie. Nicht Mayröcker."
Dass die Patientin imstande ist, von ihrer Kenntnis der österreichischen Gegenwartsliteratur zu profitieren, verweist auf ihren Beruf, der ihr selbst aber erst später wieder einfällt: Sie ist Schriftstellerin, die Rückeroberung der Sprache ist also ein in jeder Hinsicht existenzielles Unterfangen. Mithilfe ihres Laptops, ihrer Mails, ihrer Texte, die sie liest, als wären sie von einer Fremden geschrieben, unternimmt Helene immer ausgedehntere Expeditionen in die eigene Vergangenheit.
Die Aphasie bildet sich nur langsam zurück, immer wieder stürzt das "Wortkartenhaus" zusammen. Während sie bereits Komplexes schreiben kann – mit besserwisserischen Therapeutinnen kommuniziert sie schriftlich –, fällt das Sprechen noch schwer: "Matthes war heute wieder da und fragte, was es zu essen gegeben habe. Als er nachfragte, sagte sie wieder Sand. Er wiederholte es, und da fiel ihr natürlich auf: Sand war völlig falsch. Quark hatte sie sagen wollen. Quark mit Kartoffeln. Sie haben gelacht."
Mit den Wörtern stellen sich Erinnerungssplitter ein, mit ihnen neue Wörter. Die letzten Wochen vor dem Hirnschlag scheinen ausgelöscht, dann dämmert es Helene: Da war etwas mit Matthes, der jetzt so selbstverständlich und kämpferisch für sie da ist. Ja, sie wollte von zuhause ausziehen, wegen einer Liebesgeschichte, die Viola hieß und einst ein Mann war. So bizarr das in der Zusammenfassung klingt: Aus Helenes Perspektive, die ganz und gar die des Lesers ist, entsteht das Puzzle des wiedergefundenen Lebens, Stein für Stein, bezwingend unspektakulär. Nicht nur das Gehen muss die Patientin neu lernen, auch das Fühlen.
Dass der Verdacht, die Autorin, eine ausgebildete Psychologin, müsse Ähnliches selbst erlitten haben, bestätigt wird, tut nichts zur Sache dieses außergewöhnlichen Buchs. "Du stirbst nicht" ist alles andere als eine betuliche Krankengeschichte, wie der Titel vermuten ließe. Hier kämpft jemand um seine Souveränität, praktiziert Witz als Notwehr.
Kathrin Schmidt kommt ursprünglich von der Lyrik. In einer prägnanten und überaus vitalen, ungeschminkt wirkenden Sprache schildert sie nicht nur den dornigen Genesungsweg einer zum Neubeginn verurteilten Frau, mit seinen kleinen Fortschritten und massiven Rückfällen, als Gratwanderung zwischen Unvernunft und Selbstbehauptung gegen die ärztliche Übermacht. Vor allem erzählt Schmidt hier, nicht schlicht und doch ergreifend, die Geschichte einer Ehe, einer Jugend in der DDR, aber auch einer im Arbeiter- und Bauernstaat schier unmöglichen Transgenderexistenz.
Am Ende steht der Anfang, das Gefühl, von einem "Schnipsgummi" am Kopf getroffen worden zu sein, das Bild reißt, die Beine geben nach, sie schafft gerade noch den Weg ins Wohnzimmer zu Matthes. "Ich sterbe, sagt sie ruhig. Du stirbst nicht, sagt er ruhig."