

Die Südsee vor 100 Jahren
Sebastian Fasthuber in FALTER 11/2012 vom 16.03.2012 (S. 6)
August Engelhardt kommt aus Nürnberg. Viel mehr Deutsches als Name und Herkunft lässt sich auf den ersten Blick nicht an ihm finden. Engelhardt, ein junger Philosoph mit hochtrabenden Visionen, ist leidenschaftlicher Bartträger, Vegetarier, Nudist und Buddhist – was ihn Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland zum Außenseiter macht, vielmehr zu einem Vorreiter, wie er es sieht. Er muss hier raus.
Sein großes Ziel ist es, die Überlegenheit der Kokosnuss gegenüber allen anderen Speisen und Getränken zu beweisen. Entsprechend gern philosophiert er über die Vollkommenheit der tropischen Frucht: "Wer sich ausschließlich von ihr ernährte, würde gottgleich, würde unsterblich werden." Die Ernährungsgewohnheiten seiner Landsleute erscheinen ihm umso grobschlächtiger und dumpfer. Bei einem seiner letzten Besuche in der Heimat fährt er durch Berlin – fassungslos: "Ein paar Haltestellen weiter, am Alexanderplatz, lehnt ein durchnässter Berliner an einer Hauswand und isst, mesmerisiert kauend, eine jener labberigen Bratwürste. Das ganze Elend seines Volkes steht ihm ins Gesicht geschrieben."
Engelhardt möchte in der Südsee eine Kolonie gründen. Ihre Bewohner sollen den ganzen Tag nackt rumlaufen und sich als sogenannte Kokovore nur von Kokosnüssen ernähren. Tatsächlich findet der junge Mann schnell eine kleine Insel, die ihm wie geschaffen für seine Kolonie erscheint. Was ihm nicht auffällt: Es ist dann doch wieder eine Deutsche, die ihm die Insel – zu einem völlig überhöhten Preis – verkauft. Und auch Engelhardts Idee, die Kokosnüsse auf alle erdenklichen Arten zu verarbeiten und die Produkte nach Deutschland zu verkaufen, klingt weniger nach dem Leben einer Utopie als vielmehr recht pragmatisch.
Es kommt, wie es kommen muss. Die Eingeborenen, anfangs noch eifrig bei der Sache, bleiben der Arbeit bald fern. Das Geschäft mit den Kokosnüssen funktioniert nicht. Und von Menschen, die seinen Traum teilen würden, sowieso keine Spur: In den ersten Jahren wird es lediglich zwei Gäste geben – einen jungen Mann, der sich von der Nudistenkolonie in erster Linie unkomplizierten Sex verspricht, und einen Konzertpianisten in der Krise, der einmal eine Auszeit von Europa nimmt. Als durch ein Versehen eines Tages tatsächlich eine Gruppe von studentischen Engelhardt-Jüngern auftaucht, schickt der Meister sie angewidert wieder nach Hause. So richtig ist ihm doch nicht an Gesellschaft gelegen.
Kracht schildert in der Folge sehr kurzweilig, wie Engelhardt langsam verrückt wird. Eingebettet hat er diese Krankengeschichte in einen flotten Abenteuerplot – mit an Jack London und Konsorten erinnernden Stürmen auf See, schönen Mädchen auf der Flucht, stummen Dienern, edlen Wilden und mehr oder weniger edlen Kolonialherren.
An der Oberfläche ist "Imperium" das leichteste Buch des gebürtigen Schweizers. Darunter aber türmen sich Wolken und allerlei Fragen auf. Denn die Südsee um 1900 ist nur ein Nebenschauplatz. Immer wieder lenkt der Autor die Aufmerksamkeit des Lesers auf das, was sich in Europa währenddessen zusammenbraut.
Gleich zu Beginn heißt es in einem erklärenden Einschub, das Buch erzähle stellvertretend die Geschichte eines Deutschen, "eines Romantikers, der wie so viele dieser Spezies verhinderter Künstler war, und wenn dabei manchmal Parallelen zu einem späteren deutschen Romantiker und Vegetarier ins Bewusstsein dringen, der vielleicht lieber bei seiner Staffelei geblieben wäre, so ist dies durchaus beabsichtigt". Am Ende des Romans wird plötzlich auch Engelhardt dem grassierenden Antisemitismus erliegen, war er doch wie seine Zeitgenossen "dazu gekommen, in der Existenz der Juden eine probate Ursache für jegliches erlittene Unbill zu sehen".
Wenn einem etwas merkwürdig erscheint an diesem Buch, dann die Erzählhaltung. Bis zuletzt offenbart sich der allwissende Erzähler nicht. Es wäre jedoch interessant, etwas über ihn zu erfahren, da er sich von Anfang an über Engelhardt (es gab ihn übrigens wirklich) erhebt und mit amüsiert-despektierlichem Onkelblick auf seinen Helden herabschaut. Dem Autor weltanschaulich etwas vorzuwerfen, wie es in der Berichterstattung über den Roman passiert ist, erscheint dagegen hochgradig absurd.
"Imperium" ist mitnichten ein Skandalbuch; eher schon könnte man es als trojanisches Pferd ansehen. Wer Christian Kracht in die Südsee vor (gut) 100 Jahren folgt, wird zunächst von der augenzwinkernden Leichtigkeit, mit der er dieses Kapitel deutscher Kolonialgeschichte als spannenden Abenteuerroman erzählt, überrascht. Im dramatischen letzten Teil jedoch, Kracht inszeniert ihn als rasante Fahrt durch die Jahrzehnte mit zwei Weltkriegen auf ein paar Seiten, erkennt man: Von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts blieben auch Eilande in der Sonne nicht verschont.