

Wenn die Jugendfreundin zur Mörderin wird
Isolde Charim in FALTER 17/2011 vom 29.04.2011 (S. 18)
Zwei Frauen – die eine Tochter eines Opfers, die andere Schwester einer Täterin – arbeiten den RAF-Terror als Familiengeschichte auf
Am 30. Juli 1977 verschafft Susanne Albrecht einem RAF-Kommando Zutritt zum Wohnhaus des Bankiers Jürgen Ponto. Sie ist die Tochter seines Jugendfreundes, Ponto wird bei dieser Aktion erschossen. Nun, 34 Jahre später, haben Corinna Ponto, die Tochter des Opfers, und Julia Albrecht, die Schwester einer der Täterinnen, gemeinsam ein Buch geschrieben über dieses Ereignis, das sie und ihre Familien gleichzeitig trennt und verbindet: "Patentöchter. Im Schatten der RAF – ein Dialog".
Das aufsehenerregende Buch findet sich mittlerweile auf Platz zehn der Spiegel-Bestsellerliste. Fast noch erstaunlicher als diese Autorengemeinschaft ist die Erkenntnis nach der Lektüre: Diese vehement private Perspektive auf die Tat ist absolut adäquat – nicht nur für die Angehörigen. Das ist kein beschränkter Zugang zu einem Ereignis, das weit darüber hinaus geht. Es ist vielmehr die angemessene Annäherung, denn er trifft den Kern des Geschehens.
In seinem Buch über den Apostel Paulus zitiert Alain Badiou Jesus: "Ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter". Er zitiert es als notwendige Abnabelung, als Aufbruch zu jenem Universalismus, der alle beengenden nationalen und familiären, alle partikularen Bindungen und Identitäten hinter sich lassen soll.
In dem Moment, wo Susanne Albrecht durch die Gegensprechanlage der Pontos sagte: "Ich bin es, Susanne" und damit die Türe öffnete, in dem Moment vollzog sie auf eine pervertierte und blutige Weise eben diese Abnabelung: Der Radikalismus war das Durchbrechen von all dem, was Familie bedeutet. Es ist kein Wunder, dass die RAF-Kommentatoren immer wieder auf diese Geschichte zurückkommen.
Sie ist gewissermaßen das symbolische Zentralereignis der RAF. Wenn Julia Albrecht über ihre Schwester schreibt, sie war nicht irgendwie und aus Versehen dabei, sondern "Susanne war RAF", dann muss man sagen: Sie ist in dem Moment an der Klingel dazu geworden.
Denn RAF hieß nicht nur, gegen den Staat zu kämpfen, es hieß auch – wie uns hier eindringlich vor Augen geführt wird – das gesellschaftliche Prinzip durchstreichen, alle Zusammenhänge des Familiären überschreiten.
Absage an die Familie
Corinna Ponto fragt an einer Stelle des Buches, wie würde ein ehemaliger RAF-Terrorist reagieren, wenn sein eigenes Kind Opfer des "internationalen Terrorismus" würde? Die Frage verkennt das, was das Buch offensichtlich macht: Terrorismus heißt Absage an das Familiäre.
Ein Terrorist, der ein Kind hat (das er nicht verlässt), ist keiner. (Der Satz gilt natürlich nur für den politischen Terrorismus, nicht für den ganz anders gearteten innerfamiliären Terror à la Fritzl.) So ist es übrigens auch wenig verwunderlich, dass sich Susanne Albrecht beim ersten Wiedersehen 13 Jahre später kaum noch an die kleine Schwester erinnern kann.
Badiou schreibt nichts über die Kosten solch einer Abnabelung. An der Klingel zeigte Susanne Albrecht aber, dass es der RAF nicht reichte, die Familie zu verlassen. Es ging darum, das familiäre Prinzip zu zerstören. Der Verrat war dabei wesentlich wirkungsvoller, als es der direkte Vatermord je hätte sein können.
Den eigenen Vater erschießen, wäre ein innerfamiliärer Akt geblieben. Der Verrat am Freund des Vaters hat eine private Geschichte in eine öffentliche verwandelt.
Ein Buch als Tathandlung
Was aber bedeutet das Buch zweier Angehöriger in diesem Zusammenhang? Natürlich ist dieses Buch eine Tathandlung, es spricht nicht nur von etwas, der Tat, sondern vollzieht gerade dadurch auch etwas – nicht Versöhnung, aber ein Überwinden der Gräben.
Corinna Ponto brauchte sicherlich viel Kraft für diesen Weg. Julia Albrecht aber brauchte Mut. Sie brauchte viel Mut, um die Familienauflösung, die die Tat bedeutete, zu beenden. Dazu musste sie den Akt der Schwester, das Familiäre ins Öffentliche hin zu überschreiten, ein Stück weit wiederholen. Denn in der Familie ließ sich dieses monströse Geschehen nicht überwinden. Was für ein paradoxes Unternehmen: Der Konflikt musste öffentlich verhandelt werden, um die Privatheit wiederzuerlangen. Julia Albrecht musste sich – und man kann sich vorstellen, welche innerfamiliären Widerstände es da zu überwinden galt – öffentlich zur Tat ihrer Schwester positionieren.
Am eindringlichsten gelingt ihr das in dem Kapitel zum späten Prozess der Terroristin, die 13 Jahre lang unerkannt in der DDR lebte. Die Juristin Julia Albrecht hat den gesamten Prozess protokolliert und darüber sogar in der taz berichtet. Ihr Text ist schonungslos in seiner Zerrissenheit zwischen dem Bedürfnis, ein Mitglied der eigenen Familie zu schützen, und der absoluten Offenheit gegenüber dem Verhalten der Schwester.
Nach der Tat gab es nicht mehr die Möglichkeit, die geschwisterliche Liebe einfach weiterzuleben. Es konnte keine blinde Verteidigung der Schwester geben angesichts ihres grauenvollen Vorgehens. Aber es konnte auch keine Verurteilung ohne Versöhnung geben, denn das wäre ja die Fortsetzung des RAF-Prinzips, der Zerstörung des Familiären, gewesen.
Es brauchte also den unmöglichen Balanceakt, die Tat der Schwester zu verurteilen und die Schwester gleichzeitig nicht zu verraten. Mit diesem Buch ist das gelungen. Es zeigt, dass die vehemente persönliche Perspektive die angemessene politische Antwort auf dieses Geschehen ist. Das Familiäre musste wiederhergestellt werden. Nur so kann der abgebrochene Familienroman, der zugleich ein Kapitel der deutschen Geschichte ist, weitergeschrieben werden.