

Auf Koks und dem Elektrobike
Klaus Nüchtern in FALTER 15/2014 vom 09.04.2014 (S. 31)
In "Endlich Kokain" setzt Joachim Lottmann seinen Protagonisten auf Koksdiät
Man ist einfach normal und hat bald Mühe, sich zu glauben, dass man unter irgend welcher Einwirkung steht", beschrieb Sigmund Freud "die wunderbar stimulierende Wirkung der Coca" in einem Aufsatz aus dem Jahr 1884. Bei "längerem mäßigen Gebrauch" sei "keine Störung im Organismus" zu gewärtigen, Suchtgefahr nicht gegeben.
Stephan Braum interessiert am Koks vor allem die von Freud beschriebene "gegen Hunger schützende" Wirkung. Mit 135 Kilo Lebendgewicht sieht der geschiedene Fernsehredakteur in den Tiefen der mittleren Jahre einem frühen Tod entgegen, sollte sich an seiner Konstitution nicht ehebaldig etwas ändern.
Also entschließt sich der nach seiner Scheidung in Wien gestrandete deutsche Fernsehjournalist zu einer Koksdiät. Wobei die Wirkung der gering dosierten Mengen, die er sich dafür sehr regelmäßig reinzieht, in einem "wissenschaftlichen Tagebuch" verzeichnet. Der Versuch, reines Koks über einen Arzt zu beziehen, scheitert zwar kläglich, aber nachdem Braum in Künstlerkreisen verkehrt, ist es kein allzu großes Problem, an den Stoff ranzukommen.
Epizentrum der koksenden Clique ist ein charismatisches Maler-Arschloch namens – haha! – Hölzl, das sich im Laufe der Ereignisse ins Koma kokst, wodurch der Protagonist zu dessen inoffiziellem Nachlassverwalter avanciert und rasch an Sozialprestige gewinnt. Braums eigener Drogenkonsum hingegen erzielt den angestrebten Verschlankungseffekt und einen schönen Kollateralnutzen: Weil er, obgleich ein Geizhals, durchaus bereit ist, etwas von seinem Vorrat vorzugsweise an Frauen abzugeben, hat Braum auf einmal wieder Sex: mit der Kindfrau Xenia, mit der er einen Paris-Trip unternimmt und die auf SM-Praktiken steht; mit der komplett durchgeknallten Doreen, die über unerschöpfliche Kapazitäten verfügt, esoterischen Schwachsinn abzusondern ("Ich habe mir immer die Männer gesucht, die dem Schmerz entsprachen, der mich im Innern ausfüllte"); mit der abgebrühten, aber bereits post-knackigen Ursula, einer abgelegten Geliebten Hölzls
Wie schon in seinen Romanen "Die Jugend von heute" (2004) und "Zombie Nation" (2006) entnimmt der aus Hamburg gebürtige und mittlerweile in Wien lebende Lottmann (Jg. 1956) der Wirklichkeit jene Versatzstücke und Figuren, die er brauchen kann. Manche sind erfunden, manche – wie etwa Boris Becker, der Künstler Thomas Draschan oder die TV-Journalistin Nadja Bernhard – treten mit Klarnamen auf, und manche werden mit albernen Pseudonymen ausgestattet.
Der Außenminister und Vizekanzler etwa heißt Schwindelacker. Die Phrasen, die ihm der Autor in den Mund legt, sind in ihrer selbstdenunziatorischen Plattheit aber dermaßen deppert, dass Schwindelackers Wahlkampfauftritt nicht als Spindelegger-Parodie durchgeht.
Wenn Schwindelacker der Opposition zugerechnet, die Rotensterngasse vom zweiten in den ersten Bezirk verlegt oder von einem "teuren Elektrofahrrad" die Rede ist, von dem es 13 Seiten später heißt, es habe "nur 599 Euro gekostet", dann weiß man nicht, ob das genuine Schlamperei oder ostentative Wurschtigkeit ist. Egal ist es allemal, denn für einen Schlüsselroman ist "Endlich Kokain" zu wenig zeigefreudig und für eine Milieusatire zu zahnlos und unpräzise.
Am ergiebigsten ist noch der Protagonist. In seiner Mischung aus Depressivität und Geilheit, Zynismus und hündchenhafter Dankbarkeit für alle ihm erwiesenen Freundlichkeiten erinnert dieser Stephan Braum ein wenig an die Antihelden eines Michel Houellebecq – ohne dass Lottmann freilich über dessen kulturkritischen Scharfblick verfügte. Immerhin: Wenn Braum auf besagtem E-Bike den in hässlicher Funktionskleidung eingeschweißten Kampfradlern davonbraust, freut man sich mit ihm.
Dank der euphorisierenden Wirkung des Kokains wird der Romanheld von einer neuen Lebenslust erfasst, die es ihm erlaubt, mit dem linksliberalen Justemilieu zu brechen, wie es sein extrem klischeehaft gezeichneter Bruder repräsentiert. Dieses Aufbegehren gegen eine durch die vorgebliche Solidarität mit allem Mühseligen und Beladenen erschlichene moralische Überlegenheit und die Polemik gegen die fuzoselige neu-grüne Gemütlichkeit ist leidlich lustig und wäre in einem Wochenend-Feuilleton definitiv besser aufgehoben.
"Endlich Koks" möchte kess sein, ist aber bloß ein biederes Manual für den rechten Drogengebrauch. Bar aller Anmut klappern die Hauptsatzketten, fern von allem Suspense wird ein Ereignis ans nächste gestrickt. Sollte der Roman under the influence geschrieben worden sein, ist das eher keine Werbung für Koks; reinziehen kann man sich ihn aber allemal: Suchtgefahr besteht definitiv keine.