

Frau July schreibt ein Buch in Moll, der Kritiker sagt: Es ist nicht wirklich toll
Klaus Nüchtern in FALTER 34/2015 vom 21.08.2015 (S. 26)
Der Output, mit dem Miranda July als Künstlerin, Performerin, Musikerin, Schriftstellerin, Schauspielerin und Regisseurin die Welt versorgt, würde locker für ein halbes Dutzend Künstlerkarrieren reichen. Dabei ist July, die mit ihrem Film „Me and You and Everyone We Know“, in dem sie selbst die weibliche Hauptrolle spielte und 2005 in Cannes die Goldene Kamera gewann, erst 41 Jahre alt. Etwa derselben Generation gehört auch Cheryl Glickman an. Damit dürften sich die Ähnlichkeiten zwischen July und der Protagonistin ihres Romandebüts aber bereits erschöpft haben.
Cheryl ist eine neurotische, welt- und lebensfremde Person, vollkommen außerstande, eigene Interessen zu artikulieren, geschweige denn durchzusetzen. Das Objekt ihrer Begierde, der um vieles ältere Philipp, steht ihr vor allem spirituell nahe, sexuell ist er stärker an einer 16-Jährigen aus seinem Cranio-Sacral-Kurs interessiert. Dass er bei Cheryl per SMS um Zustimmung zum noch ausständigen Vollzug bettelt (die schließlich erteilt wird), lässt den Verdacht aufkommen, dass es sich bei „Der erste fiese Typ“ um eine Art dystopische Satire auf eine Gesellschaft handelt, die mit Wertschätzungsrhetorik, Therapieterror und Esoterikgeschwafel der vollkommenen Infantilisierung entgegenarbeitet.
Tatsächlich weiß man bei diesem aus skurrilen Szenarien und halbgaren Ideen zusammengezimmerten Buch oft nicht so genau, ob man lachen, weinen oder gähnen soll. Als man Cheryl die etwa halb so alte Clee als Mitbewohnerin aufdrängt, entwickelt sich zwischen den beiden Frauen über seltsame S/M-Rituale nach und nach eine echte Beziehung und schließlich – als Clee unerwartet schwanger wird – eine ganz realistisch erzählte Lovestory.
Als Großmutter, Ersatzvater und Geliebte in Personalunion findet sich Cheryl auf einmal im „richtigen“ Leben und einem sehr bedeutungsvollen Entwicklungsroman wieder, wo sie zwischen Kinderkackekonsistenzkontrolle und Muttermilchabpumpgeräuschüberprüfung eine berührende Fürsorglichkeit entwickelt, ehe das Buch so verhuscht zu Ende geht, wie es begonnen hat.