

Großmutter, warum hast du so lange Haare?
Sibylle Hamann in FALTER 11/2017 vom 15.03.2017 (S. 10)
„Die Sache mit Norma“, Sofi Oksanens märchenhafte Familiensaga mit Krimiplot, ist buchstäblich an den Haaren herbeigezogen
Was für eine Geschichte! Norma ist eine junge Frau. Sie leidet an einer seltenen Erbkrankheit, die Hypotrichose heißt. Das bedeutet: Ihre Haare wachsen so schnell, dass man ihnen dabei zuschauen kann – einen Meter innerhalb von 24 Stunden. Außerdem sind sie hochsensible Sinnesorgane. Sie reagieren auf Stimmungen, Irritationen und Erregung. Und sie befähigen Norma, aus den Haaren anderer Menschen Charakter, Geschichte und Zukunft herauszulesen. „Schlaflosigkeit und Wein, achtlose Mahlzeiten“, erkennt sie an ihrer Kollegin; Geschwüre und tödliche Krankheiten diagnostiziert sie bei anderen.
Auch gesellschaftlich steckt im Thema Haare einiges drin – zumal wenn man sich, wie die finnische Bestsellerautorin Sofi Oksanen, mit dem komplexen Verhältnis der Geschlechter auskennt. Haare sind eine Quelle von Stolz, aber auch von Scham und Schande. Mal verführen sie, mal schrecken sie ab: Medusa hatte Schlangenhaar, Rapunzel ließ ihre Locken als amouröse Strickleiter vom Turm.
Der spannendste Erzählstrang in Oksanens jüngstem Roman, „Die Sache mit Norma“, ist dann auch die Geschichte von Normas geheimnisvoller Großmutter, die nach und nach enthüllt wird: Auch Oma Eva hatte offenbar das Hypotrichose-Gen, ließ sich heimlich als Pin-up fotografieren, war der permanenten Gefahr ausgesetzt, als Attraktion im Wanderzirkus zu landen, und entzog sich dieser durch Flucht nach Übersee.
Das gegenwärtige Pendant zum Wanderzirkus ist das Reality-TV. Permanent stehen Frauen unter Haarstress. „Einfach wachsen lassen“ scheint kaum noch eine Option zu sein. Mal müssen sie sich die Haare rasieren (Heidi Klum!), dann wieder künstlich verlängern lassen. Extensions aus menschlichem Echthaar sind global heiß begehrt und sehr teuer. Da trifft es sich gut, dass Normas Mutter Anita in einem entsprechenden Studio arbeitet: Nachts schneidet sie der Tochter die Haare ab, die sie tagsüber an die Haare ihrer Kundinnen schweißt. Erst langsam merkt Norma, dass sie von ihrer Mutter jahrelang mit Nahrungsergänzungsmitteln und Vitaminpillen auf maximalen Ertrag getrimmt wurde, wie ein „kleines Mastferkel“.
Doch dann wird Anita eines Morgens von einer U-Bahn überfahren, worauf Norma plötzlich mitten in den internationalen Machenschaften einer Haar-Mafia steckt. Der Versuch, „die letzten Stunden im Leben ihrer Mutter zu rekonstruieren, um herauszufinden, was wirklich geschehen ist“, zwingt sie dazu, „nach dem roten Faden im Wirrwarr zu suchen“. Norma findet den Faden offenbar, ihre Leser und Leserinnen leider nicht.
Es gibt eine Metallkassette mit geheimnisvollem Inhalt, versteckte Kisten auf Dachböden, Schlüssel zu Schließfächern, Videokameras mit verräterischen Filmaufnahmen, rätselhafte SMS-Nachrichten und Mutters Mailverkehr, und irgendwie ist der globale Haarhandel am Ende mit dem globalen Leihmuttergeschäft verflochten. Bloß versteht man nicht genau, wie – abgesehen davon, dass in beiden Fällen Frauen und deren Körper bewirtschaftet werden. „Wir liefern nur das Material für die verschiedenen Zweige des Schönheitsgewerbes, wir geben unsere Arbeitskraft, unser Gesicht, unsere Haare, unsere Gebärmutter, unsere Brüste, und nach wie vor stecken sich Männer die Scheine, die sie dafür bekommen, in die eigenen Taschen.“
Damit hat die Autorin zweifellos recht. Bloß will sie diesmal zu viel. „Die Sache mit Norma“ möchte nicht nur ein Krimi sein (der auf vier Kontinenten spielt), sondern gleichzeitig auch eine Familiensaga (die sich über drei Generationen erstreckt) und ein magisches Märchen (Normas Haare kann man nämlich auch in der Pfeife rauchen, dann stellen sich übersinnliche Fähigkeiten ein). Das geht sich auf 320 Seiten aber nicht wirklich aus. Zumal Oksanen es sich selbst und ihren Leserinnen und Lesern nie allzu leicht machen will – und nicht chronologisch erzählt, sondern in raffiniert miteinander verschachtelten Parallelhandlungen. Aber wer will sich beim Romanlesen schon permanent Notizen machen, um den Überblick zu behalten?