

Sie blöken Lieder mit Zung und Zähnen
Stefanie Panzenböck in FALTER 11/2017 vom 15.03.2017 (S. 8)
Feridun Zaimoglus „Evangelio“ oder: Was Sie über Luther immer schon gewusst haben und daher nicht lesen wollen
Feridun Zaimoglu liebt das Spiel mit deftiger Sprache. Seit über 20 Jahren gilt er als wichtiger Autor der deutschsprachigen Literatur, bekannt wurde er mit seinem Buch „Kanak sprak“, in dem er Menschen mit Migrationshintergrund in Form von Monologen porträtiert. In Wien erregte Zaimoglu unter anderem Aufsehen, als er türkische Flaggen im Museumsquartier anbrachte, um die türkischstämmige Bevölkerung in Wien sichtbar zu machen. Jetzt also Martin Luther.
Wir schreiben das Jahr 1521. Über den Mönch und Kirchenkritiker wurde soeben die Reichsacht verhängt, nachdem er seine 95 Thesen, die sich hauptsächlich gegen den Ablasshandel des katholischen Klerus wandten, publiziert und nicht widerrufen hatte.
Der Kurfürst von Sachsen, Friedrich der Weise, nimmt ihn in Gewahrsam und bringt ihn auf der Wartburg bei Eisenach in Sicherheit. Dort sollte Luther ein Jahr unter dem Decknamen Junker Jörg bleiben und das Neue Testament ins Deutsche übersetzen.
Das Jubiläum „500 Jahre Reformation“ in Form eines Wartburg-Kammerspiels abzuhandeln und sich auf das Wesentliche, nämlich auf Luthers Bibelübersetzung, zu konzentrieren, ist ein interessanter Ansatz, an der Umsetzung scheitert „Evangelio“ aber. Zaimoglu hat es sich zur Aufgabe gemacht, so tief wie möglich in die Zeit einzutauchen. Er hat sich offenbar eingehend mit der Sprache des 16. Jahrhunderts auseinandergesetzt und das Ergebnis der Recherchen seinen Figuren in den Mund gelegt.
Eine von diesen, der fiktive Landsknecht Burkhard, wird Luther zu dessen Schutz an die Seite gestellt und fungiert darüber hinaus als Erzähler der Geschichte. Er ist Katholik und wird, trotz mancher Zweifel, der alten Kirche treu bleiben.
Aus dieser, gleich zu Beginn des Romans etablierten Konstellation ergibt sich ein brisanter Konflikt: Der Reformator ist abhängig von einem, der ihm nicht folgt, der Aufpasser muss sein Leben für jemanden einsetzen, den er im Grunde für gefährlich und verrückt hält.
Das klingt nach einer guten Idee, allerdings bleibt es auch bei der Idee. Danach plätschert die Handlung dahin, und dem Leser wird es doppelt schwer gemacht, ihr zu folgen und sich auf sie einzulassen.
Die Authentizität beanspruchende Kunstsprache, die Zaimoglu für den Roman entwickelt hat, ist eher ein Hindernis als eine Hilfe: „Wie lang werde ich meine Gebärde verstellen? Ich reg die Faust zum Streich, will ihm die Büberei ahnden. Es war Torheit, die ich reute, ich lass ab. Der Kerl treibt Scherzreden. Von ihm hängt’s nicht ab, ob ich bei Ehren bleib. Er ist von eingeschüttetem Wein geschwollen. Die Trägen blöken Lieder mit Zung und Zähnen, nicht mit der Seel.“
Hat man sich an den Sound gewöhnt, begegnet man einer sattsam bekannten Abfolge von Sachverhalten: Luther kritisiert den Ablasshandel, wird von Teufelsvisionen heimgesucht, ist cholerisch, hat massive Verdauungsprobleme, ergeht sich in heftigem Antisemitismus und Schimpftiraden wider sittlich verkommene Frauen. Dazwischen werden Briefe Luthers an seinen Freund, den Theologen Melanchthon, montiert.
Zaimoglus Roman gelingt es nicht, neue Facetten Luthers zu entdecken oder auch einfach nur zu erfinden, dafür werden immer wieder grausame Folter- und Vergewaltigungsszenen in die Handlung eingebaut, die in Grundzügen an Michel Foucaults berühmte Beschreibung der Sechsteilung eines Vatermörders in „Überwachen und Strafen“ erinnert: „Auf dies Zeichen fährt der Blutvogt dem Zinker mit dem Eisen hinein, es kümmert ihn nicht Schrei und Jammer, er sticht und wühlt und sticht, er spreizt ihm die Brust, schneidet das Herz aus dem Leibe und schlägt ihm damit drei Male aufs Maul. Der Herren Durst ist nicht gestillt. Der Henker schlägt der Leich auf der Bank Nägel in die Schläfen, und bei der dritten Gunst haut er mit einem Streich das Haupt ab.“ In „Evangelio“ erscheinen dergleichen Szenen bald nur noch als effektheischende Splatter-Elemente, die ein gescheitertes Sprachexperiment auch nicht mehr retten können.