

Durch Übel und Tod zum Glück
Andreas Kremla in FALTER 42/2023 vom 20.10.2023 (S. 44)
Oliver Burkemans Reise durch die wundersame Welt der Glückssuche beginnt auf einem Motivationsseminar mit 15.000 Teilnehmenden. „Streichen Sie das Wort ,unmöglich‘ aus Ihrem Wortschatz“, posaunt Selbsthilfeguru Robert H. Schuller in die Menge, „Streichen Sie es! Streichen Sie es für immer!“ Wirklich überzeugen kann diese Universal-Lösung den mehrfach ausgezeichneten Journalisten nicht. Burkeman sucht nach anderen Wegen zu Glück und Erfolg – in alten philosophischen Lehren und aktuellen Forschungsergebnissen.
„This Column Will Change Your Life“ hieß die Rubrik zu psychologischen und philosophischen Themen, die Oliver Burkeman 14 Jahre lang für den britischen Guardian schrieb. Auch für die New York Times und das Wall Street Journal brachte der gelernte Politik- und Sozialwissenschaftler große Fragen der Welt in einfache Worte. Sein erstes Buch „4000 Wochen: Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement“ (Piper 2022) wurde zum New York Times-Bestseller. Bereits hier ging es um die Frage, ob unsere beschränkte Zeit auf diesem Planeten gut genutzt ist, wenn wir jede Minute optimieren.
Apropos optimieren: Eine der Stationen auf Burkemans Tour ist das Lager der GfK Custom Research, das auch als „Museum der misslungenen Produkte“ bekannt ist. Hier können interessierte Designer und Produktentwickler Joghurt-Shampoo, Frühstücks-Cola oder koffeinhaltiges Bier bestaunen – Hervorbringungen, die sie nicht nachahmen sollten.
„Die Halle ist ein Friedhof des Konsumkapitalismus“, schreibt Burkeman, „und zeigt die Schattenseiten der erbarmungslos optimistischen Erfolgskultur des modernen Marketings.“ Aber muss man dafür wirklich in die Outbacks von Michigan reisen? Die Fehlschläge finden sich ja wohl auch in den Archiven der Hersteller, für die man nun erfolgreichere Produkte entwickeln soll. Mitnichten! Weltweit werden gescheiterte Produkte nicht nur aus dem Sortiment aussortiert, sondern auch aus dem Gedächtnis der Unternehmen. Fehler sind offenbar zum Schämen da, nicht zum Lernen.
Burkeman besucht auch viele Menschen, die wissen könnten, wie sich Glück erlangen lässt. Wir lernen etwa Keith kennen, der seit Jahrzehnten seine Frau pflegt und sein spärliches Geld als Stoizismus-Lehrer verdient. Von ihm erfährt er, was diese antike Denkschule zum Thema Gelassenheit empfahl: „Die Beschäftigung mit dem schlimmsten Fall, die ,Voraussicht von Übel‘, ist oft der beste Weg, um dies zu erreichen – bis hin zu dem Punkt, diese ,Übel‘ willentlich zu erleben“.
Praktische Übungen dazu wandte der New Yorker Psychotherapeut Albert Ellis jahrzehntelang in seinen Behandlungen an. Burkeman probiert nach seinem Besuch bei ihm eine seiner leichteren Aufgaben selbst aus: Auf einer Fahrt mit der Londoner U-Bahn ruft er bei jedem Halt den Stations-Namen laut durch den Waggon. Von Stopp zu Stopp wird es weniger schlimm – und nie so schlimm, wie er es sich zuvor vorgestellt hatte. Mit dieser Methode hatte Ellis hunderten Patient*innen über Angst, Scham und Hemmungen hinweggeholfen – und sie noch ganz andere von ihnen befürchtete Situationen real durchspielen lassen.
Auch zu einem einwöchigen buddhistischen Meditationsseminar dürfen wir den Autor begleiten. Die älteste unter den von ihm gesammelten Lehren bringt’s auf den Punkt: „Der Buddha wird psychologisch befreit – erleuchtet –, indem er sich der Negativität, dem Leiden und der Vergänglichkeit stellt, anstatt dagegen anzukämpfen.“
Bei aller Verschiedenheit der hier versammelten Wege durch die Wirklichkeit zur echten Erfüllung ist ihnen dieses Prinzip gemeinsam: Die Beschäftigung mit den schlimmstmöglichen Fällen führt zum bestmöglichen Ergebnis. Nicht Optimismus ist es, der uns das Leben in seiner Gesamtheit annehmen und genießen lässt, sondern Realismus.
Am Ende steht der Tod. Ihm ist hier ein ganzes Kapitel gewidmet, das zeigt, wie die hohe Kunst, dem Ende ins Auge zu blicken, nicht nur die Intensität des Lebens erhöht, sondern auch das Verhältnis zu vielen kleinen Dingen relativiert.
Burkeman schreibt über außergewöhnliche Erkenntnisse in gewöhnlichen Worten und lebendigen Sätzen. Von den Studien, die er zitiert, bringt er jene Ergebnisse, die er für sein Thema braucht, etwa, bis zu welchem Ausmaß materieller Wohlstand zum Glück beiträgt oder warum Selbsthilferatgeber nie funktionieren können. Wissenschaftliche Vollständigkeit erspart er dabei dem Leser.
In all die großen Themen und erhabenen Versuche, ihrer Herr zu werden, webt Burkeman feine Fäden leichter Ironie – und vor allem auch Selbstironie. Sie machen das Gewicht der hier versammelten Gedankengebäude nicht nur tragbar, sondern erzeugen auch Neugier und Lust auf die nächste Station.
Durch die zahlreichen Menschen, mit denen der Autor gesprochen hat, durch die vielen Sehenswürdigkeiten der Sinnsuche und die Verflechtung von Reportage mit theoretischem Hintergrund wird das große Buch zum leichtfüßigen Roadmovie durch die Berge und Schluchten des Suchens nach einer erfüllten Existenz. Zeitgemäßer Selbstoptimierung stellt Burkeman Konzepte der Sinn- und Selbstfindung gegenüber, die sich seit Jahrtausenden bewährt haben. Applaus für Buddhismus und Stoizismus, die das Match gegen Motivationstraining und Zeitmanagement locker gewinnen!
Burkeman bringt jedem, der nicht nach schnellen Lösungen, sondern tiefer Erkenntnis sucht, ein Panoptikum von Beispielen dafür, dass ohne Tiefen zu durchschreiten keine Höhen zu erreichen sind.