
Mit der Bitte um Vertrauen und Höflichkeit
in FALTER 44/2025 vom 29.10.2025 (S. 19)
Am Anfang war es ein Witz. Stephen Colbert, US-amerikanischer Comedian, hielt Wikipedia 2006 für schlimmen Unsinn: "Jeder kann Beiträge ändern, und wenn genug Leute einer Meinung sind, dann wird es zur Wahrheit? Das ist Wikiality!", klagte er. In der Tat. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia wird von Nutzern für Nutzer erstellt, alle können mitmachen. Und das ist keine blöde Idee. Schon der britische Statistiker Francis Galton stellte 1906 fest, dass der Durchschnitt aller Meinungen der Wahrheit sehr nahe komme. Er hatte Besucher eines Jahrmarktes schätzen lassen, wie viele Kilo Fleisch von einem Stier nach der Schlachtung übrig bleiben. "Gemeinsam wissen wir weit mehr als jeder Einzelne von uns", schreibt Jimmy Wales in seinem Buch "Trust", das er gemeinsam mit dem Journalisten Dan Gardner verfasste.
Jimmy Wales ist ein Tech-Futurist, der diesen Namen verdient. Als er Wikipedia 2001 gründete, wollte er der Welt freien Zugang zu Wissen verschaffen. Und anders als viele andere Gründer - Sam Altman von OpenAI etwa - hat Wales das jetzt ein Vierteljahrhundert durchgehalten. Wikipedia, heute die fünfterfolgreichste Webseite der Welt, verbreitet Information ohne Bezahlschranke.
Soweit zum Lob. Wikipedia ist aber natürlich schon fehleranfällig. Jimmy Wales erzählt von einem der frühen Skandale, als ein angesehener Journalist auf Wikipedia des Mordes an John F. Kennedy bezichtigt wurde. Auch das war als Scherz gedacht. Deckte aber auf, wie schwierig es ist, die Wahrheit zu garantieren, wenn eine Enzyklopädie frei zugänglich erstellt wird. Heute arbeitet eine Armee an Wikipedianten, die zumeist ehrenamtlich tätig sind, an der Erstellung von Artikeln.
Wales erzählt in "Trust" viel über Enzyklopädien, über seine Tochter Kira und was ihre Krankheit mit der Entstehung von Wikipedia zu tun hatte, er schreibt ein Plädoyer für die Höflichkeit und eines für die Tugend der Unabhängigkeit. Und er erzählt von den Pros und Cons einer Menschenmenge, die zusammenarbeitet -im Bösen, um einen Lynchmord zu begehen, und im Guten? Na ja, um gemeinsam eine Enzyklopädie zu schreiben. Zu einem, und das beschreibt das Projekt und den Erfinder vielleicht am besten: zu einem guten Zweck.
Seit sich das Internet "in eine Jauchegrube voller Wut und Hass" (Wales) verwandelt hat, wirken Begriffe wie Zuverlässigkeit, Allgemeinwohl und Respekt im Zusammenhang mit dem World Wide Web naiv. Dieser Gründer aber appelliert auch für dieses fragile Zeitalter noch an die "Natur des Menschen": Wenn er mit Regeln versehen ist und in einer Gemeinschaft eingebettet lebt, dann benimmt sich der Mensch zumeist zivilisiert.
Jetzt aber droht Wikipedia der Untergang. Denn das schnellste Weltwissen schleudert inzwischen die künstliche Intelligenz in die Welt. Wales will dem entgegensteuern, indem er dem Trend folgt: "Glass Mountain" heißt das KI-Tool, das er in Wikipedia einbetten will. Auf Fragen soll es eine Zusammenfassung des gesamten Antwortenhaufens mitliefern, die "den Berg zu Glas werden lässt". Das soll Wikipedia vor ChatGPT retten. "Sie wollen Vertrauen? Dann bringen Sie den anderen Vertrauen entgegen", schreibt Jimmy Wales und klingt dabei altmodisch und revolutionär zugleich. Frances Frei von der Harvard Business School sagt, dass beim Vertrauen immer drei Elemente eine Rolle spielen: Authentizität, Empathie und Logik. Wenn ein Element wegfällt, zerbricht das Vertrauen. Noch hat Wikipedia genau das den KI-Tools voraus.


