

Vielstimmiger, hundsgemeiner Tratsch
Sigrid Löffler in FALTER 42/2022 vom 19.10.2022 (S. 13)
In einem Essay mit dem Titel „Behutsame Ortsbestimmung“ hat Péter Nádas das westungarische Dorf Gombosszeg, in dem er seit fast 40 Jahren lebt, einer ebensolchen Ortsbestimmung unterzogen, wobei er tief in archaische Schichten hinabstieg, um die Dorfwelt zu verstehen.
Sein Resümee: Die Dörfler sind von magischen und mythischen Vorstellungen geprägt, denken und handeln als entpersönlichtes Kollektiv; darüber, was jeder im Dorf weiß, wird geschwiegen; außerhalb des Dorfwissens existiert kein Wissen und außerhalb des Dorfes keine Welt. Das Dorf ist gleichbedeutend mit tout le monde. Die Dörfler führen keine Dialoge, sie hören einander nicht zu, sondern reden unausgesetzt parallel übereinander hinweg, oft sehr lautstark, in unpersönlichen Monologen erzählen sie eine einzige große Geschichte. „Es entsteht ein fürchterliches Stimmengewirr.“
Es empfiehlt sich, das reale Dorf Gombosszeg im Kopf zu behalten, wenn man sich auf das fiktive ungarische Dorf nahe dem Donau-Knie einlassen will, den Schauplatz (und Helden) des neuen Romans von Péter Nádas. In „Schauergeschichten“ sucht Nádas das fürchterliche Stimmengewirr der Dörfler literarisch nachzubilden und ihm eine höchst eigenwillige und innovative Form zu geben. Der Roman ist eine furiose und ästhetisch riskante Tour de force, die der Konzentration und kombinatorischen Beweglichkeit aufmerksamer Leser einiges abverlangt und zumutet.
Mit 80 Jahren begibt sich Nádas hier auf neues und ziemlich verstörendes sprachliches Terrain und setzt damit einiges aufs Spiel: seinen gefestigten Ruf als einer der großen Autoren Europas und die Gefolgschaft seiner Lesergemeinde, die er mit diesem Roman vor den Kopf stoßen dürfte.
Doch dieses ästhetische Wagnis erweist sich bei genauerer Lektüre als von Nádas präzise durchdacht. Die feinmechanische Struktur des Ganzen ist sprachlich penibel austariert. Sein Thema: die dämonische Macht des kollektiven Unbewussten, in dem dumpfes Triebleben und mythische Erinnerungsreste brodelnd regieren. In moralische Begriffe übersetzt: Der Roman ist eine Untersuchung über das Böse im Menschen in vielerlei Gestalt, vor dem zerstörerischen Hintergrund scheinbar ewiger kommunistischer Gewaltherrschaft in Ungarn.
Sprachlich manifestiert sich das Böse zunächst in hundsgemeinem Dorftratsch, einem vielstimmigen Chor anonymer Dörfler, die vor allem über bestimmte Dörflerinnen gehässig herziehen. Ihre Rede ist Kloake, ihre Niedertracht stinkt zum Himmel. Mit dreckigem Geschwätz, gewirkt aus Bosheit und Unwissenheit und durchsetzt mit gotteslästerlichen Flüchen und zotigen Beschimpfungen aus dem Fäkal- und Sexualbereich, schneidet das Chor-Kollektiv einigen Frauen, die irgendwie auffällig und daher als Außenseiterinnen gebrandmarkt wurden, die Ehre ab, verhöhnt und verleumdet sie.
Frau Teres, eine ehemals adelige alte Grundbesitzerin mit einem unehelichen Sohn, wird als Hexe diffamiert und zur Zielscheibe allgemeiner Missgunst und Häme. Ihre Tagelöhnerin Rosa, die epileptische Tochter des Gemeindehirten, gilt als Dorfhure, die jeden drüberlässt und den Bankert dann weggibt, die Frühgeburt hingegen im Mist verscharrt. Und der kleinwüchsigen Thekenhilfe des Kneipenwirts, allgemein nur „das Zwerglein“ genannt, wird nachgesagt, dass sie es hinterm Plumpsklo mit jedem Mann treibt. Endlos der Spott der Dörfler, weil ihr lediger Sohn Imre ein großgewachsener junger Mann ist, bei dem sich körperliche Schönheit mit dumpfer Brutalität paart. Außer den Frauen mit ihren Bastardsöhnen gilt die üble Dorfnachrede dem Potenzneid auf dauergeile Männer, vor allem auf den Gemeindehirten und den Bienenzüchter, die angeblich jede Frau bespringen.
Doch dabei belässt es Nádas nicht. Sein raffiniertes, multiperspektivisches Erzählwerk wechselt unentwegt den point de vue, oft von einem Satz auf den nächsten, in harten Schnitten. Der Text wird ständig moduliert und variiert, springt abrupt von der gehässigen Außen- auf die selbstreflexive Innenperspektive und retour, spielt mit Vorgriffen und Rückverweisen und führt früh Motive ein, etwa die afrikanischen Hornissen, deren mörderisches Treiben, aufgeladen mit metaphorischer Bedeutung, viele hundert Seiten später zum katastrophischen Finale des Romans beitragen wird.
Aus dem bösen chorischen Sprachunflat tönen allmählich personal erzählende Einzelstimmen heraus, die in erlebter Rede oder innerem Monolog die eigene Herkunft aus dem entmachteten Adel oder aus Restbeständen einstigen Großbürgertums ansprechen und die geisterhaften Tiefenschichten rudimentärer historischer Erinnerung anklingen lassen. Die wichtigste Stimme ist die der Frau Teres, die als junge ledige Mutter von ihrer adeligen Familie verstoßen und enterbt wurde und sich und ihr Söhnchen in Schande durchbringen musste. Der dezent wienerische Tonfall des Übersetzers Heinrich Eisterer lässt in Timbre und Wortwahl die kakanische Vergangenheit dieser Region charmant anklingen.
In der zweiten Romanhälfte geht es dann um prämodernen Aberglauben, um das potenzielle Böse in Gestalt eines triebhaften Liebeswahns, den der katholische Dorfpfarrer als teuflische Besessenheit missdeutet und dem großen Sohn des Zwergleins rituell auszutreiben sucht. Damit beschleunigt der Priester die Tragödie, auf die der Roman mit Mord und Selbstmord melodramatisch zusteuert.
Die Schilderung eines Exorzismus hätte man in einem Nádas-Roman vielleicht nicht unbedingt erwartet. Aber da es hier um lauter grausige Schauergeschichten geht, nimmt man auch diesen schrägen Exkurs in die katholische Gespensterfolklore in Kauf.