

Ein Virtuose der Menschenverachtung
Klaus Nüchtern in FALTER 45/2023 vom 08.11.2023 (S. 31)
Als Le Monde im August 2021 vom Fund einer Kiste mit 6000 Manuskriptseiten des Schriftstellers Louis-Ferdinand Céline berichtete, stand die literarische Welt Frankreichs Kopf ob dieser Sensation. Mit der Enthüllung der Entdeckung war zugewartet worden, bis Célines Witwe mit 107 Jahren verstorben und die Gefahr eines zensurierenden Zugriffs ihrerseits gebannt war. Céline selbst, der eigentlich Louis Ferdinand Destouches hieß und von Beruf Arzt war, hatte aus seinen Ansichten freilich keinen Hehl gemacht: Er war ein rabiater Rassist, Antisemit und bekennender Hitlerianer. Ob man seine Frauenverachtung als weitere Spezialdisziplin oder Sub-Phänomen umfassender Misanthropie deuten soll, ist fast schon eine akademische Frage.
Dass ein so veritabler Kotzbrocken dennoch zu den wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts gezählt wurde, liegt daran, dass eine sensitivity-reading-sichere Gesinnung nicht schon immer als einziges Kriterium für literarische Qualität galt. Mit seinem Roman "Reise ans Ende der Nacht"(1932) war Céline durch den Porzellanladen der französischen Literatur getrampelt und hatte dort, wo man sich einst an den Satzkaskaden des hypersensiblen Marcel Proust delektierte, einen Scherbenhaufen zurückgelassen.
Mit Kommissschnauze und Splatter-Syntax verarbeitet Céline auch in "Krieg", dessen Entstehungszeit auf 1934 datiert wird, sein Erlebnis der ersten Flandernschlacht. Im Oktober 1914 trägt sie ihm eine Kopfverletzung, einen kaputten Arm und eine Medaille ein. Schwer gezeichnet taumelt Ferdinand übers Feld, schildert in fiebrigem Stakkato den Aufenthalt in einer zum Lazarett umfunktionierten Kirche, das nach Beschuss wieder aufgelöst wird, und seine Verbringung in ein Spital, in dem er im Jänner 1915 nicht zur Ruhe, aber zu liegen kommt.
Parfait-Miséricorde nennt sich das Krankenhaus, Noirceur-sur-la-Lys der Ort, in dem es liegt. Dergleichen blumige Wortspiele kontrastieren mit der Kotz-Würg-Röchel-Geräuschkulisse, die dem Verletzten Auskunft darüber gibt, was sich in den Betten neben ihm abspielt. Im Fokus seiner Aufmerksamkeit aber steht L'Espinasse, die Schwester, die ihm das Leben gerettet und im Saal das Sagen hat, zugleich die "Schlampe", "Schachtel", "Sau" und "Schnuspel", die die maroden Soldaten kathederisiert und sich ganz generell eingehend mit deren Schwänzen befasst. Ferdinands Überlebensmotto: Wer einen hochkriegt, ist noch nicht komplett hinüber.
Man kann Céline wohl einen perversen Pazifisten heißen: Er hat den Frieden verachtet, aber den Krieg gehasst. Jeder Versuch, diesem auch nur irgendeinen höheren Sinn oder Zweck zu unterstellen, wird als hohles Geschwätz denunziert. In "Krieg" hat Ferdinand denn auch nichts als Verachtung übrig für das Mitleid und die spießigen Existenzsorgen seiner Eltern, die ihn im Militärhospiz besuchen kommen: "Nie habe ich etwas so Widerwärtiges gesehen und gehört wie meinen Vater und meine Mutter."
Bordelle sind im Ort verboten, also muss sich die Brunst der Soldaten andere Wege der Abhilfe suchen: "[V]ielleicht fickte man sich unter den Alliierten auch ein bisschen in den Arsch, was bei uns damals noch nicht so verbreitet war." Ferdinands Kumpel, den der schlampige Autor mal Bébért, mal Cascade nennt, betätigt sich im Gasthaus, in dem die beiden zu saufen pflegen, als Zuhälter seiner "Geliebten" Angèle, die sich vor allem mit englischen Offizieren einlässt und Ferdinand als Komplizen einspannt, um diese abzuzocken.
Tatsächlich hat Cascade, an dessen Seite der Protagonist geradezu als philanthropisches Lamperl dasteht, die Kontrolle über sein "Pferdchen" Angèle längst verloren. Es bleibt ihm nichts übrig, als seine Rolle zu spielen, "die des Burschen, dem vor nichts graut". Mit dieser Beobachtung entlarvt sich der Autor aber auch ein Stück weit selbst, hat man nach Lektüre von "Krieg" doch den Verdacht, dass es sich bei Céline um ein One-Trick Pony handelt, einen Poseur des Nihilismus.