

Sterben mit Sinn
Klaus Nüchtern in FALTER 19/2025 vom 09.05.2025 (S. 29)
Am 3. Juli 1988 kamen alle 290 Insassen einer Maschine der Iran Air auf dem Flug 655 von Teheran nach Dubai ums Leben. Der im Golf von Persien stationierte Lenkwaffenkreuzer USS Vincennes, der im Ersten Golfkrieg kuwaitische Öltanker vor Angriffen schützen sollte, hatte das Passagierflugzeug irrtümlich als Abfangjäger identifiziert und abgeschossen. In seinem Debütroman "Märtyrer!" hat Kaveh Akbar, 35, diesen realen Vorfall in die Biografie seines fiktiven Protagonisten eingebaut.
Cyrus Shams ist, so wie der Autor, aus Teheran gebürtiger US-Amerikaner und in der Anfang 2017 spielenden Gegenwart des Romans mit 29 Jahren bereits Vollwaise: Seine Mutter kam beim erwähnten Todesflug ums Leben, sein Vater, der im Mittleren Westen auf einer Hühnerfarm schuftet, stirbt, ein Jahr nachdem er den Sohn im College untergebracht hat. "All diese Tode", so die bittere Bilanz des Hinterbliebenen, "haben keinerlei Bedeutung."
Dass sich Cyrus einen bedeutungsvollen Tod wünscht, ist nachvollziehbar; dass der 1,90 große, sprachlich hochbegabte und poetisch ambitionierte junge Mann erwägt, als Märtyrer zu sterben, aber doch auch deprimierend und nicht eben der Stoff, aus dem Feelgood-Romane gefertigt werden.
Umso mehr überrascht es, dass "Märtyrer!", dessen Autor sich so wie sein Protagonist zunächst als Lyriker hervorgetan hat, ein ziemlich komisches Buch geworden ist. Abseits jeder Larmoyanz und Selbstergriffenheit spielt es eine ganze Reihe von gewichtigen Themen durch. Es sei, so befand die US-Schriftstellerin Lauren Groff, "der beste Roman, den Sie je über das Glück der Sprache, Sucht, Entfremdung, Märtyrertum, Zugehörigkeit und Heimweh lesen werden".
Gleich zu Beginn wird Cyrus, der wieder einmal mit seiner zerrissenen Identität kokettiert, von seinem Betreubuddy bei den Anonymen Alkoholikern in die Schranken gewiesen: "Ich hab kapiert, dass du Perser bist. Dort geboren, hier aufgewachsen [ ]. Aber du hast wahrscheinlich allein heute schon mehr Zeit mit deinem Smartphone verbracht als mit dem Zerteilen von Granatäpfeln. In deinem ganzen Leben zusammen. Stimmt's?" 2024 stand "Märtyrer!" auf der Shortlist des renommierten National Book Award, der dann Percival Everetts "James" zugesprochen wurde. Tatsächlich ist Akbars Debüt wesentlich witziger und komplexer ausgefallen als der doch recht durchschaubar didaktische, gleichsam mit dem Zaunpfahl geschriebene Roman des um rund 30 Jahre älteren Routiniers Everett.
Die Zeitebenen ebenso wechselnd wie die Perspektiven werden in "Märtyrer!" nicht nur die Todessehnsucht des Protagonisten, sondern darüber hinaus auch die Kämpfe um Lebenschancen und -entwürfe veranschaulicht, die Figuren unterschiedlichen Alters und Geschlechts führen. So erfahren wir etwa von dem grotesk grausamen Einsatz von Cyrus' Onkel auf den Schlachtfeldern des Ersten Golfkriegs ebenso wie von der geheimen lesbischen Affäre, die Cyrus' Mutter kurz nach der Islamischen Revolution in Teheran beginnt.
Eine Generation später und einen Kontinent weiter ist die Frage, wen und wie man begehrt, nichts, woraus man ein Geheimnis machen müsste. Cyrus und dessen offen schwuler Freund und Mitbewohner Zee erwähnen es bloß nicht, dass sie gemeinsam in einem Bett schlafen und gelegentlich Sex haben: "Gar nicht aus Scham oder um irgendwas zu verheimlichen [ ]. Sie fanden es praktisch unmöglich, anderen ihre Beziehung zueinander zu erklären, ohne dabei die Intimität aufzubauschen oder kleinzureden. Deshalb versuchten sie es gar nicht erst."
Und dann ist da noch Orkideh, Mitte 50, ebenfalls iranischer Abstammung, Künstlerin und unheilbar an Krebs erkrankt. Offenkundig modelliert nach der serbischen Performancekünstlerin Marina Abramović und deren Aktion "The Artist Is Present", hat sie beschlossen, im Museum lebend das eigene Sterben zu ihrem letzten Kunstwerk zu machen. Zwischen ihr und Cyrus, der sie auf Anraten Zees und im Zuge seiner Recherchen für sein Märtyrerbuch dort besucht, entspinnt sich über die klugen und witzigen Dialoge, die den Roman generell auszeichnen, schnell eine wechselseitige Zuneigung, die den finalen Plot-Twist präludiert - der hier selbstverständlich nicht verraten wird.