

Epitaph für einen Mann, der im Kampf für die Freiheit starb
Klaus Nüchtern in FALTER 21/2025 vom 23.05.2025 (S. 30)
Hervé Le Tellier war schon über 60 und hatte bereits zwei Dutzend Bücher veröffentlicht, als er 2020 für "Die Anomalie" mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. In der Folge wurde der raffiniert konstruierte, multiperspektivische Mysterythriller des studierten Mathematikers verfilmt und in 44 Sprachen übersetzt. Le Telliers jüngstes Buch startet, aufmerksamkeitsökonomisch betrachtet, also aus der Pole-Position und wurde in Frankreich prompt ein Bestseller. Der im Titel erwähnte "Name an der Wand" ist der von André Chaix, eingeritzt in den Rohputz eines Hauses in der Ortschaft der südostfranzösischen Region Auvergne-Rhône-Alpes, das Le Tellier zu seinem "Geburtshaus" auserkoren hatte. Der Mann, der ihn trug, kämpfte in der Résistance und wurde im August 1944, gerade einmal 20 Jahre alt, von der Besatzung eines deutschen Panzers getötet.
Le Tellier maßt es sich, wie er explizit anmerkt, nicht an, den Widerstandskämpfer und Bäckerssohn "wieder zum Leben zu erwecken", aber er versucht, sich und den Lesern ein Bild von ihm zu machen - auch mithilfe von Fotos und Dokumenten, die ihm im Zuge seiner Recherchen unterkamen und die ins Buch eingestreut sind. In einem Genre-Mix aus historischer Recherche, Memoir und Essay erteilt sich der Autor mit einem Faible für Filmgeschichte und Panzerschlachten die Lizenz zur Abschweifung und Selbstreflexion, nicht immer ganz uneitel, aber frei von Anmaßung und Kitsch.
Scharfsichtig nimmt Le Tellier die französische Kollaboration in den Blick, kratzt am Mythos so mancher Nationalhelden; er spielt sich nicht zum Weltenrichter auf, beweist aber klare Haltung, die man auch als Kommentar zu den derzeit weltweit statthabenden autoritären bis faschistischen Tendenzen auffassen darf: "Man diskutiert solche Ideen nicht, man bekämpft sie. [ ] Wer auch immer den Hass auf andere sät, verdient nicht die Gastfreundschaft einer Diskussion."