

Statt mit dem Zeigefinger mit dem kleinen Finger schießen
Tessa Szyszkowitz in FALTER 9/2025 vom 28.02.2025 (S. 23)
Tote schwarzblaue Bräutigame, aus dem Krieg heimgekehrt, legen sich für immer zu ihren Bräuten ins Bett."
So beginnt der Text der feministischen Schriftstellerin Darja Serenko, die noch 2020 eine Fem-Datscha -eine feministische Kommune - am Rande von Moskau gründete und heute im Exil lebt. "Solche Männer zu lieben ist schwer, aber sie zu beerdigen, ist auch nicht leicht."
"Njet": Das ist der Titel dieser Sammlung an Antikriegstexten von 25 russischen Autorinnen und Autoren. "Nein! Stimmen aus Russland gegen den Krieg", ein Nein mit Rufzeichen hat der Rowohlt-Verlag für die deutsche Übersetzung auf das Buchcover geschrieben. 384 Seiten gegen den Krieg zum dritten Jahrestag des Überfalls der russischen Armee auf die Ukraine. Eine Sammlung teils poetischer, surrealer Texte.
Teils sind sie bittere, harte Anklage. Manchmal blitzt Humor auf. Immer schwingt die Trauer über eine verlorene Heimat mit, über eine zerstörte Gesellschaft und ein oft nicht einfaches Leben im Exil.
Zusammengestellt hat dieses wichtige und wütende Buch der russische Schriftsteller und Journalist Sergej Lebedew.
Er lebt wie die meisten, die hier über ihre Erlebnisse berichten, im Exil. "Wie schon vor hundert Jahren wird Istanbul zu einem wichtigen Transitort, und Berlin zur neuen Hauptstadt der Exilkultur", schreibt er im Vorwort.
Auch wie zu Zeiten der bolschewistischen Machtübernahme 1917 ist es heute wieder so, dass sich durch die Familien die Trennlinien ziehen, wer für oder gegen den Krieg, für oder gegen die Machthaber ist. Und wer mit ihnen kollaboriert. "Die sowjetischen Kollaborateure wurden nicht zur Verantwortung gezogen, weil faktisch niemand ihre Handlungen als Kollaboration ansah", schreibt Lebedew in der dunklen Vorahnung, dass es jetzt wieder so sein wird: "So ist das Thema der Kooperation mit einer verbrecherischen Macht wohl eines der Hauptthemen der Anthologie."
Lebedews eigener Prosatext handelt von den grauenvollen Konsequenzen des Krieges für ein Land, das verroht. Ein zu lebenslanger Haft verurteilter Mörder, der Frauen zu Tode gequält hatte, wird im Zuge des Krieges gegen die Ukraine an die Front geschickt -mit der Aussicht, nach sechs Monaten Frontdienst auf freien Fuß gesetzt zu werden.
Nicht nur die Frauen schlottern vor Angst, auch der Polizist, der ihn eingesperrt hat, fürchtet seine Heimkehr. Und er kommt zurück.
Auch von den regulären Soldaten haben einige Glück und kommen nachhause. Wobei Glück relativ ist. "Erzähl uns was Lustiges", sagen die Hochzeitsgäste in "Aljoscha ist aus dem Krieg zurück" von Lisa Alexandrowa-Sorina.
Aljoscha erzählt, dass es seinem Kumpel die Finger abgerissen hat, er die Finger in Eis gepackt und nach Donezk gebracht hat. Dort habe ein Arzt sie wieder angenäht: "Nur dass der Arzt besoffen war und die Finger durcheinandergebracht hat." Sie seien trotzdem angewachsen. Bloß wäre es jetzt beim Schießen schwierig, weil "statt dem Zeigefinger der kleine Finger abdrücken muss".
Auf Russisch zu schreiben ist den Autorinnen und Autoren besonders wichtig, weil es, so Herausgeber Lebedew, darum gehe, "eine gemeinsame Sprache zu finden, um zu erkennen, dass wir viele sind".
Auch eine tartarische Schriftstellerin kommt zu Wort, auch sie Teil der intellektuellen Antikriegskoalition. Wer sich nun fragt: Mit welchem Text beginnen? Egal, einfach alle lesen.