

Ein Lichtdom der Lügen
Christoph Winder in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 16)
n belletristischen Auseinandersetzungen mit dem „Dritten Reich“ und seinem mörderischen Personal hat es in Frankreich nie gemangelt. Der Bogen spannt sich von Michel Tourniers Goncourt-Preis-gekröntem Sensationserfolg „Der Erlkönig“ (1970), in dem der germanophile Großschriftsteller einen tumben, jungen Franzosen (mit Zwischenstation auf Görings „Reichsjägerhof“ Rominten) quer durch das untergehende Nazideutschland taumeln lässt, bis hin zu Gegenwartsautoren wie Jonathan Littell, Olivier Guez, Laurent Binet oder Eric Vuillard. Deutschland, Deutschland über alles.
Einen rezenten Zugang zu diesem speziellen Subgenre verdanken wir dem Filmkritiker und Autor Jean-Noël Orengo, der sich in „Der Architekt und sein Führer“ intensiv der sonderbaren Karriere des 1905 geborenen Albert Speer widmet.
Der Titel des im Vorjahr erschienenen Originals geht auf ein Zitat des SS-Offiziers Karl Maria Hettlage zurück und lautet „Vous êtes l’amour malheureux du Führer“ („Sie sind die unglückliche Liebe des Führers“). Er könnte den unbefangenen Beobachter befürchten lassen, dass er es mit einer Nazi-Schwulenschmonzette zu tun bekommt – jedoch zu Unrecht.
Orengos Unternehmen ist eine ernsthafte, formal überzeugende Auseinandersetzung mit einem historischen Akteur, der Bluff und Mystifikation in epischem Ausmaß und mit fulminantem Erfolg praktizierte.
Speers Lebenslauf selbst hat seine romanhaften Momente. Bei den Nürnberger Prozessen zu 20 Jahren Haft verurteilt, saß der Paradearchitekt des „Führers“ seine Gefängnisstrafe bis zum letzten Tag ab. In den ihm verbleibenden eineinhalb Lebensjahrzehnten – Speer starb 1981 – etablierte er sich mit seinen „Erinnerungen“ und seinen „Spandauer Tagebüchern“, beide in riesigen Auflagen verbreitet, als über die Grenzen Deutschlands hinaus leuchtender publizistischer Fixstern und entwarf das Selbstbild eines mit seiner Schuld ringenden „guten Nazis“.
Der Historiker und FAZ-Herausgeber Joachim Fest, der ihm zeitweilig als Ghostwriter zur Seite stand, kreidete Speer zwar „technizistische Unmoral“ an, bescheinigte ihm aber auch, „frei von rechtstechnisch greifbarer Schuld“ gewesen zu sein.
Speer war im „Dritten Reich“ allerdings keineswegs nur als Architekt aktiv. Er folgte dem bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Fritz Todt 1942 im Amt eines Reichsministers für Bewaffnung und Munition, das er bis zum Untergang des „Dritten Reichs“ innehatte. Anzunehmen, dass er in dieser Position nichts vom Holocaust mitbekommen hätte, erfordert ein gerüttelt Maß an Naivität oder Selbstverblendung. Zur Untermauerung der gegenteiligen Annahme hat der deutsche Historiker Magnus Brechtken das Nötige beigetragen.
Orengos Roman hebt mit einer Vorwarnung an. Er schildert, wie Hitler, ständig an einer Waffe herumfummelnd, einen Plan Speers mustert und „in einem schwer zu deutenden Tonfall“ gutheißt: „einverstanden“. Gleich anschließend legt Orengo offen, dass alle Einzelheiten dieser Szene Speers Büchern entnommen sind, die ihrerseits von dessen Biografen angezapft wurden.
Reflexionen darüber, was sich mit einem freimütigen Umgang mit Wahrheiten aus zweiter Hand anstellen lässt, wechseln mit einem selbstbewussten Berichtston ab, in dem sich ein allem Anschein nach sehr gut informierter Erzähler gebärdet, als wäre er höchstpersönlich bei jedem Tête-à-tête des Führers („le guide“) mit Speer dabei gewesen.
Er schildert das Kennenlernen der beiden („Liebe auf den ersten Blick“), den Fortgang ihrer sich gegen Kriegsende hin eintrübenden Beziehung, Speers Sonderstellung im Organigramm der Nazibonzen (die ihn überwiegend hassen) und natürlich dessen Arbeit an der Reichstagsästhetik mit ihren Lichtdomen und sonstigem Brimborium.
So zu tun, als befände sich der Erzähler geradewegs in Speers Kopf, ist ein legitimes, aber auch zur Wachsamkeit nötigendes Verfahren. Die Fiktionen, die Orengo entfaltet, erwecken den Eindruck der „Vraisemblance“, der Glaubwürdigkeit, der man als Leser allerdings gemeinsam mit dem Autor zu misstrauen lernt, weil dieser fast ausschließlich auf Speers Selbstauskünften beruht.
Mit fortscheitender Lektüre kann man zusehends nachvollziehen, wie es Speer-Biografin Gitta Sereny ergangen sein muss. Die aus Wien vertriebene jüdischen Historikerin und Journalistin hatte sich jahrelang an der Frage abgearbeitet, was in dem soignierten Herrn, der in Nürnberg schon optisch vorteilhaft von den „vulgären Schafsköpfen“ auf der Anklagebank abstach, vorgegangen sein mochte. „Sie hört ihm zu, und etwas missfällt ihr zutiefst, die Mischung aus einem allzu offensichtlichen Charme und einem allzu bereitwilligen Schuldeingeständnis, und trotzdem ist sie außerstande, sein manipulatives Vorgehen zu erkennen.“ Sereny war wahrlich nicht die Einzige, der es so erging.
Das 63. Kapitel – der Roman hat 64, die Assoziation „Schachbrett“ ist gewollt – gilt einer eingehenden Erörterung der Tricks und Winkelzüge, mit denen sich ein Krieg der Narrative führen und gewinnen lässt. Was Speer selbst betrifft, gibt sich Orengo kategorisch: „Speer log immer.“ Vor allem gelang es ihm, den Fokus der Wahrnehmung konstant vom Rüstungsminister zum Architekten hin zu verschieben. Sein böses Meisterwerk wurde nicht aus Steinen, sondern mit Wörtern erbaut. Er selbst ist tot, aber der Geist der Verlogenheit wirkt in einer Zeit der Fake News und Influencer ungebrochen weiter. Daran lässt auch Orengos Roman keinen Zweifel.