
Hitler, Koks und Hackfleischbällchen
Sebastian Fasthuber in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 20)
eitlebens war Thomas Pynchon ein Star der Gegenkultur sowie verschworener Dechiffrierzirkel, die seine Bücher akribisch nach Sinn und Bezügen durchpflügten. Regisseur Paul Thomas Anderson, der einen Narren an Pynchons Romanen gefressen hat, bereits 2014 die Hippie-Geschichte „Inherent Vice“ („Natürliche Mängel“) verfilmte und kürzlich noch, inspiriert von Pynchons Kalifornien-Roman „Vineland“, den Blockbuster „One Battle After Another“ nachlegte, ist es zu verdanken, dass das notorisch öffentlichkeitsscheue Phantom der Gegenwartsliteratur aktuell im Mainstream so präsent ist wie nie zuvor.
Der heute 88-jährige Großmeister der US-Postmoderne könnte sich das alles gemütlich vom Ohrensessel aus ansehen. Sein Einfluss auf die Popkultur sowie auf post-postmoderne Schriftstellergenerationen à la David Foster Wallace ist unbestritten. Doch zumindest eine Ehrenrunde wollte Pynchon offenbar noch drehen.
Das neue Werk „Schattennummer“, das in Teamarbeit vom gut eingespielten Gespann Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren ins Deutsche übersetzt wurde, ist so pynchonesk, wie es ein Roman nur sein kann. Es treten auf: ein mittelmäßiger Ermittler, der auf eine Quest geschickt wird, ohne den Auftrag selbst recht zu verstehen; ein bunter Haufen von Nachtclubsängerinnen, ein dubioser Käsebaron, Spione und Kokainisten; Figuren mit klingenden Namen wie Skeet Wheeler, Zbig Dubinsky oder April Randazzo; sowie Figuren, die bei jeder Gelegenheit in Gesang ausbrechen, was dem Autor die Gelegenheit verschafft, sein Faible für alberne Reime und Songtexte auszuleben.
Der Roman setzt in den frühen 1930ern in Milwaukee ein, also gegen Ende der Prohibition und unweit von Chicago, von wo aus Gangster und Mafia den Alkoholschmuggel dirigierten. Der Antiheld Hicks McTaggart ist als kleiner Detektiv im vergleichsweise beschaulichen Milwaukee vor allem mit Fällen von Ehebruch und Untreue beschäftigt.
Pynchon dürfte sich beim Schreiben bestens unterhalten haben. Durch den ganzen Roman ziehen sich eindrücklich-sinnliche Beschreibungen wie die folgende: „Hicks drückt sich in der Gasse hinter Pasquales Bella Palermo herum, hört nudelwickelnde Geselligkeit, riecht Spaghettisauce, bratenden Knoblauch und Sfincione bagherese auf einem Feuer aus Olivenholz, und das macht ihn hungrig […].“
Selbst wenn wieder einmal eine Bombe hochgeht und die berüchtigten Italiener dafür verantwortlich gemacht werden, verfällt Pynchon auf einschlägige Vergleiche: „Das ist das Volk, das die Hackfleischbällchen und die Bocciakugel erfunden hat – rollende Sachen sind für die ganz normal.“ Kein Wunder, dass man während der Lektüre ständig Appetit bekommt und selbst an den Herd eilen will.
Aber auch abseits kulinarischer Assoziationen sind der Fantasie und Fabulierlust des Autors keine Grenzen gesetzt: „Abtrünnige Nonnen in Zivilklamotten tanzen Two-Step mit bombenwerfenden marxistischen Guerilleros. Tollkühne faschistische Piloten spielen Poker mit Veteranen der Yangtse-Patrouille, die glauben, dass Flugzeuge nur dazu gut sind, abgeschossen zu werden. Wagner-Soprane lernen die Hillbilly-Akkorde von ,Wabash Cannonball‘.“
Eines Tages findet sich Hicks gegen seinen Willen an Bord eines Schiffes in Richtung Europa, und die Dinge werden immer komplizierter. Er soll Daphne finden, die durchgebrannt ist, Tochter Bruno Airmonts, des „Al Capone des Käses“ – „Sein Name sorgt in Melkschuppen im ganzen Land für Furcht und Schrecken“.
Von der Gesuchten gibt es allerdings zunächst keine Spur. Dafür begegnet Hicks an Bord einem Ehepaar britischer Spione. In Belgrad läuft ihm wie zufällig ein dem weißen Pulver verfallener Wiener Inspektor namens Egon Praediger über den Weg, der ausschließlich maßgeschneiderte Knize-Anzüge trägt („die einzige Oase im modischen Ödland zwischen Neapel und London, sofern man die neueren deutschen Militäruniformen nicht mitzählt, die mittlerweile ganz vielversprechende Ansätze zeigen“).
In Europa ist allerorts von Hitler die Rede. Hicks hat zwar keine Ahnung von Politik, wird aber in allerhand Verwicklungen zwischen den Geheimdiensten verschiedenster Nationen hineingezogen. Als reiner Tor findet er zum Glück immer noch eine Hintertür oder entschwindet in einen Swing-Club, wo er seine Fähigkeiten als Tänzer ausspielen kann.
Thomas Pynchon ist nicht der Autor, der umfassende Reflexionen über den dräuenden Zweiten Weltkrieg anstellen würde. Stattdessen liefert er ein wunderbar aufgekratztes Zeitbild, in dem Hicks und all die anderen merkwürdigen Gestalten am Rand des Vulkans entlangtänzeln.
Eine prophetische Bemerkung legt der Autor einer Nebenfigur dann doch in den Mund: „Europa zittert, nicht nur vor Angst, sondern auch vor Verlangen. Verlangen nach dem, was schon fast eingetreten ist, sich über uns zusammenbraut, eine lange erotische Steigerung vor dem erschauernden Moment der Klarheit, ein gewaltsamer Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung, die sich von einem Ausstrahlungspunkt in oder in der Nähe von Wien rasch und grenzenlos in alle Richtungen ausbreiten wird.“
Bei allem Hang zu Albernheiten wie einem Nebenstrang über geschmacklose Lampen und Lampadophile, die sich zu Beleuchtungskörpern sexuell hingezogen fühlen, ist der Roman nicht nur eine lässige Zugabe im unnachahmlichen Pynchon-Stil, und wer will, kann obiges Zitat auch als Kommentar zur aktuellen Weltlage verstehen. Oder man holt die Tanzschuhe aus dem Kasten und legt mit Hicks einen Lindy Hop hin.