

"Es ist fertig und ich bin noch da"
Ulrich Rüdenauer in FALTER 41/2013 vom 11.10.2013 (S. 14)
In seinem Tagebuch "Letzte Einkehr" protokolliert Nobelpreisträger Imre Kertész schonungslos die Demütigung des Alterns
Ein Eintrag vom 17. Januar 2001 gibt den Tenor der nun veröffentlichten späten Aufzeichnungen von Imre Kertész vor: "Erkennen zu müssen, daß mein Tagebuch zu einer Wüste persönlicher Klagen geworden ist. Trotzdem muß ich es führen, damit man sieht, was aus einem wird, wenn Geist, Lust und Begabung schwinden."
Ein düsterer Moll-Ton durchzieht "Letzte Einkehr", nur ab und zu durch ein paar heitere Dur-Klänge abgemildert. Dennoch oder gerade deshalb ist dieses Buch eine eindrückliche Lektüre, ein journal intime, das uns Einblicke in die Innen- und Außenwelten, in die alltägliche Verzweiflung und den trotzigen Mut eines der großen Autoren des 20. Jahrhunderts gewährt.
Imre Kertész' gesamtes Werk ist geprägt vom Autobiografischen, dabei kunstvoll die Abgründe zwischen Erlebtem und Fiktion überbrückend, schwebend und von einer Ernsthaftigkeit, die man von großer Literatur verlangt, aber nur bei wenigen Dichtern findet.
"Denke ich an einen neuen Roman, denke ich immer an Auschwitz", hat Kertész einmal gesagt. Dieser Ort des Grauens bildet das Zentrum seines Werks. Er selbst ist als 15-Jähriger nach Auschwitz deportiert worden, sein berühmtestes Buch, "Roman eines Schicksallosen", legt davon Zeugnis ab.
Seine Tagebücher der Jahre 2001 bis 2009 fallen in die Zeit seines größten Ruhms und vielleicht auch der größten Selbstzweifel.
2002 wird Kertész der Literaturnobelpreis zugesprochen. Zu dieser Zeit lebt er mit seiner zweiten Frau Magda bereits in Berlin, geflohen vor der "Barbarei" in seinem Heimatland Ungarn, einer von ihm tief empfundenen Kulturlosigkeit, dem Antisemitismus seiner Landsleute: "Noch nie habe ich in meinem Leben so viel Niedertracht erfahren, wie seit der Verkündung meines Nobelpreises. Als wäre der Preis nur dazu da, das Fenster zu den bodenlosen Tiefen der Gemeinheit aufzustoßen. Judenhetze von Nazis; Judenhetze von Juden; das Gewürm, das aus der Vergangenheit kriecht
"
Berlin erscheint Kertész wie ein Hort der westlichen Zivilisation, als sei er endlich angekommen in der Freiheit. An dem Schatten, der sich über sein Dasein senkt, ändert das freilich nichts: "Der größere Teil meines Lebens ist eine tief empfundene sinnlose Zeitvergeudung. Ich bin unfähig, mich dem zu erwehren."
Das Alter erleidet Kertesz als physische Demütigung. Es geht in seinen Tagebüchern zugleich um Existenzielles und um Triviales. Der Kampf mit dem Computer, der die Schreibmaschine abgelöst hat, wird geschildert; die Freuden und das Unglück des Alleinseins und des Zusammenlebens mit einer Frau, die im Gegensatz zu Kertész ein Familienmensch ist – ein immer wieder zu Irritationen führender Umstand.
Krankheiten beschränken die gewonnene Freizügigkeit zusehends, Parkinson wird diagnostiziert. Verlagswechsel, Freundschaften und das kulturelle Leben Berlins spielen eine Rolle, zunehmend auch die unangenehme Kehrseite des Ruhms: Interviews und Einladungen, Verpflichtungen, denen Kertész in geradezu masochistischer Manier nachzukommen sucht. Zuweilen verachtet er sich dafür, Teil einer "Auschwitzkultur" geworden zu sein.
Nicht zuletzt ist dieses Tagebuch aber auch ein Arbeitsjournal. Der immer wieder stockende, beglückende, zerreißende, euphorisierende, niederschmetternde Schreibprozess wird ausführlich geschildert. In dieser Zeit entstehen, man mag es angesichts der geschilderten Qualen dieses Schreibakts kaum für möglich halten, gewichtige Werke: "Liquidation" und "Dossier K.".
Das letzte Projekt allerdings, ein "radikal persönliches Buch" mit dem Titel "Letzte Einkehr", missglückt. Ein Fragment ist der Ausgabe seiner Tagebücher beigegeben. Das Scheitern wird selbst zu einem Werk, nämlich zu jenem, das uns nun vorliegt.
Imre Kertész lebt inzwischen wieder in Budapest. In einem Interview mit der Ze meine Augenblicke schon erlebt", sagt er in diesem Gespräch. "Es ist fertig, und ich bin noch da." Die Tagebücher von Imre Kertész sind der Epilog zu einem wechselvollen Leben, wahrhaftig eine letzte Einkehr.