Parallelgeschichten

1728 Seiten, Hardcover
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ISBN 9783498046958
Erscheinungsdatum 16.02.2012
Genre Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Verlag Rowohlt
Übersetzung Christina Viragh
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Rowohlt Verlag GmbH
produktsicherheit@rowohlt.de
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Kurzbeschreibung des Verlags


Zwanzig Jahre nach seinem international gefeierten Buch der Erinnerung legt Péter Nádas sein Opus maximum vor. Als die Parallelgeschichten 2005 in Ungarn erschienen, wurden sie als ein «Krieg und Frieden des 21. Jahrhunderts» begrüßt.
1989, im Jahr des Mauerfalls, findet der Student Döhring beim Joggen im Berliner Tiergarten eine Leiche. Mit dieser kriminalistischen Szene beginnt der Roman, eröffnet zugleich aber auch die weitgespannte Suche nach dem düsteren Geheimnis einer Familie. Es ist die Geschichte der Budapester Familie Demén und ihrer Freunde, deren persönliche Schicksale mit der ungarischen und deutschen Vergangenheit verknüpft werden. Die historischen Markierungen sind die ungarische Revolution 1956, die nachrevolutionäre Zeit, der ungarische Nationalfeiertag am 15. März 1961 und, rückblickend, die Deportation der ungarischen Juden 1944/45 und die Vorkriegszeit der dreißiger Jahre in Berlin.
Der Roman entwirft ein Panorama europäischer Geschichte, in einer überwältigenden Fülle von Geschichten, die keine realistische Konstruktion zu einer Story vereinen könnte. Die eine große Metaerzählung des Romans jedoch bilden die Geschichten der Körper, die für Nádas zum Schauplatz der Ereignisse werden. Der
männliche und weibliche Körper und seine Sexualität prägen die Lebenswirklichkeit der Personen, sie sind das «glühende Magma», das «in der Tiefe ihrer Seele oder ihres Geistes ruhende Zündmaterial», das die Parallelgeschichten zur Explosion bringt.
Aufgrund seines analytischen Scharfblicks und der Kraft seiner Personengestaltung stellt die internationale Kritik Péter Nádas neben Proust. Wenn dessen großer Roman am Beginn einer literarischen Moderne steht, dann mag diese in den Parallelgeschichten ihre Vollendung finden.


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ISBN 9783498046958
Erscheinungsdatum 16.02.2012
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FALTER-Rezension

Kein Muskelzucken bleibt unerwähnt

Jörg Magenau in FALTER 11/2012 vom 16.03.2012 (S. 16)

Ein Roman, sagte Péter Nádas einmal, sei eine höchst gewöhnliche Sache: "Er stapft in Erfahrung herum." Bezogen auf dieses gigantische Werk, an dem er 18 Jahre arbeitete, ist das eine maßlose Untertreibung. Beim bloßen Herumstapfen – womöglich mit Gummistiefeln im Uferschlamm? – würde man kaum so lange und so fasziniert zuschauen wollen. Vielmehr handelt es sich bei den "Parallelgeschichten" um einen breiten Strom aus Sprache, der unterschiedlichste Erfahrungen aufzunehmen vermag. Weil die Sprache tragende Kraft entwickelt, kann man sich diesem Strom anvertrauen, auch wenn nicht abzusehen ist, wohin das führen wird.

Flüsse
Flüssen, allen voran der Donau, kommt eine große Bedeutung zu. Ein eindrucksvolles Kapitel (aber eigentlich sind alle Kapitel in der Genauigkeit der Beschreibungen eindrucksvoll) handelt davon, wie zwei Freunde in der Nähe des südungarischen Mohács bei einsetzender Dunkelheit durch den Fluss und wieder zurückschwimmen, wie sie von der Strömung weit abgetrieben werden, sich verlieren, mit ihren Kräften fast am Ende sind, dann, während sie nackt am Ufer zurückgehen, den Ausgangspunkt und ihre Kleider nicht mehr wiederfinden. So ähnlich funktioniert auch der Lesevorgang. Die Szene ereignet sich im Jahr 1938. Mehr als zwei Jahrzehnte später, am 15. März 1961, dem ungarischen Nationalfeiertag, erinnert sich einer von ihnen, der Schiffskapitän Bellardi, inzwischen Taxifahrer in Budapest, an diese Nacht zurück und begreift, dass es vielleicht der glücklichste Augenblick seines Lebens gewesen ist.
Auf der anderen Seite der Ereignisse spielen der Rhein und die niederrheinische Landschaft an der holländischen Grenze eine Rolle. Im Jahr 1989 verhört dort ein Polizeikommissar einen jungen Mann, der im Berliner Tiergarten eine Leiche entdeckt hat und sich nun schuldig fühlt. Im Jahr 1945 war in dieser Gegend ein KZ, dessen Aufseher denselben Nachnamen hat wie der etwas verwirrte junge Mann: Döhring. Auch davon wird erzählt, und wie bei Kriegsende die Leichen der Ermordeten in den Gräben zwischen den Feldern verbrannt wurden.
Damit sind die wichtigsten Koordinaten gesetzt: Budapest und Berlin, die Kleinstadt Mohács und Pfeilen am Niederrhein. Zu erwähnen ist außerdem noch ein Internat im Erzgebirge, in dem die Nazis "rassenkundliche" Forschungen an den Knaben betreiben. Die Erzählpunkte in der Zeit umspannen mit 1938 und 1945 den Zweiten Weltkrieg, mit 1961 und 1989 die Zeit von kurz vor bis kurz nach der Berliner Mauer. Dazwischen liegt 1956, das Jahr der brutalen Niederschlagung des ungarischen Aufstandes durch die Rote Armee, ein Ereignis, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist.
Aus all dem ergibt sich bei Nádas keine Chronologie, sondern ein komplexes Geflecht von lockeren Bezügen und subkutanen Berührungspunkten. Er nimmt die Fäden auf und lässt sie wieder liegen, ohne sie zwanghaft miteinander zu verknüpfen oder sie an ein Ende zu führen, wie es die literarische Konvention verlangen würde. Die Zeit läuft bei ihm nicht ab, sie staut sich an. Nádas variiert die Fließgeschwindigkeit und damit den Rhythmus des Erzählens. In der Nahsicht sind Großaufnahmen möglich.
Die Gegenwart ist ins Endlose gedehnt und dadurch voller Spannungen. Die vergangenen Ereignisse sind in den folgenden Generationen präsent, in ihren Irrtümern, Ängsten und Hoffnungen, in ihren Körpern. Diese Spuren macht Nádas sichtbar, nicht indem er sie benennt und isoliert wie ein Wissenschaftler, sondern indem er sie so zeigt, wie sie die Romanfiguren prägen, egal, ob diese etwas davon begreifen oder nicht. Der Erzähler ist mit seinen Figuren in die Geschichte verstrickt.

Stoffe
Im Mittelpunkt steht die Familie Lippay-Lehr, die in einem repräsentativen Haus in Budapest lebt. Professor Lehr, der einst als Nationalist den faschistischen Pfeilkreuzlern nahestand und dann bei den Kommunisten Karriere machte, liegt an diesem Tag im Jahr 1961 im Krankenhaus im Sterben. Nachdem das Telefon lange vergeblich klingelte, bricht seine jüdische Frau Erna mit Gyöngyvér, der vor allem an Sex interessierten Freundin des dubiosen, schwermütigen und aggressiven Sohnes Ágost, zu ihm auf. Kristóf, Neffe und Ziehsohn, der von der Mutter verlassen und dessen Vater deportiert wurde, steht stumm am Fenster.
Von dieser Szene aus entwickelt Nádas die Figuren, taucht ein in ihre Erinnerungen und öffnet das Universum seines erzählerischen Kosmos. Vier ältere Damen, die sich allabendlich zum Bridge treffen, unter ihnen eine Musiklehrerin, eine Psychoanalytikerin und eine Holocaustüberlebende, bilden einen weiteren Kristallisationspunkt in Budapest. Es geht um Liebe und Verlassenheit, um Mord und Selbstmord, Beharrlichkeit und Verletzlichkeit. Überall Stoffe, Geschichten, die erzählt werden müssen.
Parallel dazu – aber parallel ist nicht das richtige Wort, wenn es keine Kontinuität der Zeit mehr gibt – entsteht ein geradezu friedfertiges sonntägliches Bild von der Arbeit des rassenhygienischen Kaiser Wilhelm Instituts für Anthropologie 1938 in Berlin-Dahlem. Dessen Chef von der Schuer ist dem realen Otmar Freiherr von Verschuer nachempfunden, einem Lehrer Josef Mengeles. Baronin von Thum zu Wolkenstein ist dort mit der Sektion von Augenpaaren von Zwillingen beschäftigt; jetzt sitzen alle bei von der Schuer zu Tisch, auch eine ungarische Gräfin, die mit dem Hausherrn auf peinliche Weise zu flirten beginnt.
Nádas lässt die Handlungserwartung immer wieder ins Leere laufen. Seine Geschichten haben keinen Anfang und kein Ende. Sie sind sehr viel grundsätzlicher rea­listisch, als der Realismus jemals Wirklichkeit abgebildet hat. Es geht dabei weniger um das Vorantreiben der Ereignisse, als darum, Stoffe zu entfalten. Geradezu sinnbildlich dafür ist die Szene, in der der junge Döhring in ein Berliner Dessous-Geschäft gerät und dort trotz seiner Scham einen aparten Slip erwirbt, dessen stoffliche Beschaffenheit die Verkäuferin mit Worten rühmt, die dem Genital und seiner optimalen Präsentation beklemmend nahe rücken. Im "Zauberspiegel" in der Umkleidekabine sieht Döhring seine Gestalt verzerrt. Das Spiegelbild vergrößert den Lendenbereich. Wenn es in diesem Buch eine Zentralperspektive gibt, dann ist sie hier zu finden.

Körpergerüche
Mit der Leiche im Tiergarten setzt das Buch ein. Doch wer einen Kriminalroman erwartet, wird enttäuscht: Die Identität des Toten bleibt auch nach 1724 Seiten ungeklärt, ja, schlimmer noch, er spielt überhaupt erst nach mehr als 1000 Seiten wieder eine Rolle. Der Kommissar macht seinem Metier als Schnüffler alle Ehre. Am Genital des Toten erschnüffelt er einen speziellen Parfumduft. Das könnte eine Spur sein, ist aber eher eine Leseanleitung.
Ohne Spürnase ist man im Kosmos dieser Geschichten verloren, gerade weil die ausgelegten Spuren nicht weiter verfolgt werden. Die auftretenden Gerüche sind nicht immer angenehm: Modergeruch, Leichengeruch, nach Teer riechender Männerschweiß im Pissoir auf der Margareteninsel, wo sich nachts die Schwulen treffen. Der junge Kristóf, der einzige Ich-Erzähler im ganzen Buch, erlebt dort seine tragische, erschütternde Initiation. Später folgt er der Barkeeperin Klára, die jedoch mit einem proletarisch-kraftvollen Mann zusammenlebt. Liebe ist Kampf, bei dem das eigene, unbestimmte Ich zur Debatte steht.
Zu riechen ist auch der Sexdunst von Mann und Frau – Ágost und Gyöngyvér, die es tage- und nächtelang auf einem quietschenden Sofa miteinander treiben –, so wie die Zimmerwirtin ihn wahrnimmt, als sie die Tür öffnet und schnüffelnd ins Dunkel starrt, gerade als die beiden den Orgasmus nicht noch länger hinauszögern wollen. Die Sexszene umfasst mehr als hundert Seiten. Es ist vermutlich der längste Fick der Literaturgeschichte. Kein Härchen, kein Sperma­tropfen, keine Vorhautfalte, kein Muskelzucken bleibt dabei unerwähnt. Die Sprache zeigt ohne Vorbehalt, dass Sex auch lächerlich, ekelhaft und schmerzhaft ist und dass die Verschmelzung der Körper regelmäßig ihr Ziel verfehlt: die Seele, die Liebe, was auch immer. Auch das könnte eine Parallelgeschichte sein. Sex bietet das individuellste Erleben und ist doch die größte denkbare gattungsmäßige Allgemeinheit.
Nadás interessiert sich für die Grenzüberschreitung des Ich, besonders für Homosexualität als Tabuverletzung der bürgerlichen Normen und Sicherheiten. Kristófs aufwühlenden Erlebnissen im Stadtpark ist die Geschichte von Kapitän Bellardi und dem Architekten Madzar entgegenzusetzen, einer homoerotischen Liebe, die nur augenblicksweise als Verborgenes zum Vorschein kommt. Und es gibt auch eine wollüstige lesbische Liebesszene, als irritierende Erinnerung von Erna Lippay-Lehr während der Taxifahrt ins Krankenhaus.

Struktur
"Der Roman ist dazu da, etwas sinnlich fassbar zu machen", sagt Nádas. Im Zentrum der Sinnlichkeit steht der Körper. Dass sich Geschichte im Körper und durch ihn hindurch ereignet, ist im Grunde eine ­Banalität. Es gibt eben keine Historie als Parallelgeschichte irgendwo da draußen, sondern in jedem Augenblick die Einheit von Körper, Seele und Universum. Eben das möchte Nádas erzählen. Seine ­Prosa macht jeden einzelnen ­Augenblick mit kühler Präzision transparent, füllt ihn mit Transzendenz, mit Erinnerungen, ­Fantasien und all dem Ungeschehenen, das auch zur Geschichte gehört. So wird jeder Moment tendenziell unendlich. 1724 Seiten sind dafür nicht viel.
Kriminalroman, historischer Roman, Holocaustgeschichte, ungarische Geschichte, Familienroman, Adoleszenzroman, Liebesroman, pornografischer Roman, Auseinandersetzung mit dem Kommunismus: All das sind die "Parallelgeschichten" – und viel mehr. Realismus und Postmoderne, Konstruktion und Dekonstruktion sind darin aufgehoben.
"Mir ist die sprachlose poetische Struktur des Textes mit den Jahren wichtiger geworden als Helden und Handlungen", sagt Nádas und präzisiert diese Auffassung durch den Vergleich mit modernen Naturwissenschaften, wo auch "die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen wichtiger erscheinen als die Elemente selbst. Weil die Welt anscheinend nicht auf Materie beruht, sondern auf Konstruktionsprinzipien, die die verschiedenen stofflichen Elemente miteinander in Verbindung bringen." Was das für das Erzählen bedeutet, für die Darstellung von Leben, Körperlichkeit, Geschichte und Bewusstsein, führen die ­"Parallelgeschichten" vor. Man kann mit diesem Buch unmöglich fertig werden.

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