

Wenn ein Vogel nach einem Nazi und der Mann an der Tanke Elvis heißt
Klaus Nüchtern in FALTER 13/2016 vom 01.04.2016 (S. 30)
Bücher mit Vögeln im Titel und/oder auf dem Cover liegen im Trend. Den Anfang machte vor drei Jahren die US-Schriftstellerin Donna Tartt mit ihrem 1000-Seiten-Wälzer „Der Distelfink“. Dann kam die Britin Helen McDonald mit ihrem überraschenden Bestseller „H wie Habicht“, der Falknerei und Vaterverlust zusammenbrachte. Diesen Bücherfrühling nun tritt Juli Zeh mit einem Kampfläufer auf dem Umschlag ihres Romans „Unterleuten“ gegen den „Mauerläufer“ an, das späte Debüt der Amerikanerin Nell Zink (Jg. 1964).
Der keine 200 Seiten umfassende Roman ist eindeutig das schlankste der genannten Werke, es ist aber auch das unkonventionellste. „Ich schaute gerade auf die Karte, als Stephen plötzlich ausscherte, gegen den Felsen schrammte und die Fehlgeburt verursachte.“ So lautet der erste Satz des im amerikanischen Original bereits vor zwei Jahren erschienenen Buches.
Das Interesse Stephens gilt aber nicht so sehr Tiff(any), mit der er seit kurzem verheiratet ist, sondern dem angefahrenen Titelhelden, den er in einem Brotbeutel birgt und zu Hause aufpäppelt – was die Berner Wohnung der beiden Zieheltern kurzfristig zur Anlaufstelle für Vogelverrückte macht, Tiff in den Orni-Foren den Spitznamen „Mauerläufer-Girl“ und eine peinliche Schlagzeile beschert, die auf Englisch noch besser kommt: „They wrote, ,Bernerin ist gut zu Vögeln‘, the oldest joke in the book.“
Blöder Witz, aber nicht ganz falsch. Das denkt jedenfalls der Mann von der Tankstelle, der als „Elvis, der Montenegriner“ firmiert und Tiff schnell davon überzeugt, dass der „heiße Sex“, den sie mit Stephen zu haben glaubte, nur eine kleinbürgerliche Fiktion gewesen war. „Er trug enge Hosen und hatte einen Abschluss in Überholter Theorie aus Ljubljana“, ist aber angesichts seiner beschränkten Kapazitäten außerhalb des Bettes vielleicht doch kein Žižek-Schüler, wie Stephen mutmaßt, der überhaupt so seine Zweifel hat: „Von wegen Montenegriner! Der ist garantiert Syrer! ,Elvis!‘ Das klingt wie ein philippinischer Telefonverkäufer, der sich Aragorn nennt.“
Der Vogel heißt übrigens Rudi – nach Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß, weil die ausgebreiteten Flügel eines Mauerläufers die Farben einer Nazi-Flagge aufweisen. Gleichsam als namensmagischen Gegenzauber verpasst ihm Tiff den Nachnamen Durutti – nach dem spanischen Anarchosyndikalisten Buenaventura Durutti (der im Roman unsinnigerweise als „Anarcho-Kommunist“ bezeichnet wird).
Muss man noch darauf hinweisen, dass in dem Roman Umweltkampagnen und Öko-Terrorismus eine nicht unbedeutende Rolle spielen? Muss man nicht, denn eine Inhaltsangabe macht hier noch weniger Sinn, als es Inhaltsangaben ohnedies tun. Abortus – Vogeladoption – Vogelverlust – Vögeloptionen: Alles ist fast schon bizarr bedeutsam, ohne indes bedeutungsschwer zu werden. Was unter Symbolverdacht gerät, ist zugleich ganz konkret, und die sich aufdrängenden Deutungsangebote werden durch die gefriergetrocknete Lakonie und die überbordende Komik sofort pulverisiert.
Am Ende zeichnen sich sogar die Konturen eines Entwicklungsromans ab, wenn ein ostdeutscher Pfarrer namens Gernot Tiff ins Gewissen redet: „Hör auf, dich zu verschenken, und du wirst mehr zu bieten haben als deinen Körper und deine Seele. Hüte und pflege beide. Und lerne, lerne, lerne!‘ Letzteres sagte er, Lenin zitierend, auf Russisch: Ucit se, ucit se, ucit se.“
Und so abrupt und unvorhersehbar, wie der ganze Roman verläuft, beherzigt die bis dahin eher antriebslose Tiff den Rat: Sie renoviert eine Wohnung und schreibt einen Roman. Dessen Titel? Na, selbstverständlich „Der Mauerläufer“.