

Von Punk bis Trump
Klaus Nüchtern in FALTER 43/2020 vom 23.10.2020 (S. 9)
Nell Zink hat hat eine der eigenwilligsten Schriftstellerkarrieren der letzten Jahre hingelegt. Als 2014 ihr witzig-dreistes Romandebüt „Der Mauerläufer“ erschien, war die im brandenburgischen Bad Belzig lebende US-Amerikanerin bereits 50. Innerhalb von sechs Jahren veröffentlichte sie vier Romane, die alle umgehend ins Deutsche übersetzt wurden, zuletzt ihr Roman „Doxology“ unter dem Titel „Das hohe Lied“. Wie schon „Virginia“ (orig.: „Mislaid“) ist Zinks jüngster und mit gut 500 Seiten mit Abstand gewichtigster Roman eine Familiengeschichte, die mehrere Generationen umspannt und nebenbei auch noch einen Panoramaschwenk über die jüngere US-amerikanische Politik-, Kultur-, Mentalitäts- und Umweltgeschichte macht.
Im Mittelpunkt stehen drei Post-Boomer, die in der Post-Punk-Ära die Klubs der Lower East Side mit ihrem Krawall beschallen. Pamela Bailey lernt Joe Harris 1989 kennen, und der junge Mann wendet sich – ihre Bekanntschaft ist gerade wenige Sekunden alt – mit folgenden Worten an Pam: „Du siehst super aus bis auf die Haare! […] Du solltest flüssigen Eyeliner tragen und lange Haare bis zum Po!“
Eine Erklärung für diese doch etwas dreist-distanzlose Erstansprache mag der Umstand sein, dass Joe „an einem hochfunktionalen Williams-Syndrom“ leidet; der Gendefekt kann zu kognitiven Behinderungen führen, geht aber auch mit musikalischer Begabung und – im vorliegenden Fall – mit einer unerschütterlichen Arglosigkeit einher: „Er sagte immer, was er dachte, und vertraute jedem, den er traf.“
Als dritter im Bunde gesellt sich noch Daniel Svoboda hinzu, der als Einziger kein Upper-(Middle)-Class-Kid ist und uns als „Eighties-Hipster“ vorgestellt wird: „Der Eighties-Hipster war die kurzlebige Gischtkrone auf der schmutzigen Welle der höheren Bildung der Arbeiterkasse, und es ist richtig, um ihn zu trauern, auch wenn er zu viel Zeit damit verbrachte, nach authentischen Snuff-Videos und Fotos von nackten Khoisan-Frauen zu suchen.“
Nell Zink ist eine der vifsten Schriftsteller der Gegenwart und schöpft aus einem stupenden Vorrat an Wissen. Selten taucht eine Figur auf, die nicht gleich mit Familiengeschichte, Bildungsbiografie und Hinweisen auf sexuelle Vorlieben oder die Bewegungsfreudigkeit ihrer Spermatozoiden ausgestattet würde.
Ähnliches gilt für die unbelebten Bestandteile ihres Erzählkosmos: In anderen Romanen mögen vielleicht Nippesfiguren rumstehen, bei Zink ist es „ein weißer Porzellancherub“, der „mit einem Tomatenschwärmer aus Polyurethan kopuliert“; woanders tritt eine Indie-Band auf, bei Zink, deren Dissertation sich mit „Performativity in Music Journalism and Interdisciplinary Music Analysis“ beschäftigt, erfährt man natürlich ein bisschen mehr: „Joe spielte durch zwei Verstärker […]und ein Whirlwind-Splitter trennte die Ausgangssignale. Der Effekt-Loop am Bassverstärker lief durch ihren MXR-Verzerrer. Der Gitarrenverstärker, mit voll aufgedrehtem Hall und heruntergedrehten Höhen, wurde durch ihr Foxx-Fuzz-Wah gejagt.“ Usw., usf.
Keine Frage, man fühlt sich in diesem Roman, der Stoff für mehrere Diplomarbeiten in den Fächern Politikwissenschaft, Cultural Studies und Geoökologie bereithält, immer top informiert, wäre aber mit dem Hinweis, dass die Audition Night im legendären CBGB in der Bowery dumpf dröhnenden Indie-Noise produzierte, eventuell auch zufrieden gewesen.
Man könnte eine Besprechung von „Das hohe Lied“ allein mit einer Inhaltsangabe diesen wendungs-, detail- und beziehungsreichen Romans bestreiten. Das wäre natürlich vollkommen sinnlos; ein paar Hinweise auf entscheidende Konstellationen und Handlungsverläufe müssen aber schon skizziert werden, auch wenn es dadurch unumgänglich ist, den Plot ein wenig zu spoilern (!).
Der 9. September 2001 führt nicht nur zum bekannten kollektiven Trauma, sondern ist auch der Tag, an dem – wir befinden uns zu Beginn des zweiten Romandrittels – Joe Harris dank einer Überdosis und seiner verpeilten Junkie-Freundin aus dem Leben ins Reich der tragischen Rocklegenden befördert wird.
Auch für Daniel und Pams kleine Tochter Flora bedeutet dies eine einschneidende Wende: Sie verliert mit Joe nicht nur einen ebenso unkonventionellen wie liebevollen Babysitter, sondern verlagert ihren Lebensmittelpunkt von der allen feuerpolizeilichen Vorschriften Hohn sprechenden Bruchbude am Rande von China Town ins gediegene Ambiente des großelterlichen Anwesens in Washington, D.C.
Nachdem Pam den Kontakt zu ihren Eltern über Jahre unterbunden hatte, überlässt sie Flora nun praktisch deren Obhut und gibt auch ihren Widerstand auf, diese auf eine bessere Schule zu schicken, denn: „Jede Generation sollte es besser haben als die davor. Sich diesem Prinzip der kontinuierlichen Verbesserung zu widersetzen ist falsch. Es ist nihilistisch“ – befindet Floras Opa.
„Das hohe Lied“ spannt sich bis in die 2010er-Jahre und nimmt auch noch den mit in jeder Hinsicht für unmöglich befundenen Aufstieg eines Mannes in den Blick, der Präsident der Vereinigten Staaten werden sollte. Es ist ein Generationenroman über die Brüche und Kontinuitäten von Selbstbildern, Lebenszielen und Idealen, bei dem man sich nie ganz sicher ist, wo die Grenzen zwischen ätzendem Sarkasmus und Sympathiebekundung, ja ungebrochener Romantik verlaufen. Auch hier weiß die Autorin vermutlich mehr, als den meisten ihrer Leser je in den Sinn kommt.