

Mussolini lebt
Wolfgang Zwander in FALTER 23/2010 vom 11.06.2010 (S. 16)
Der Faschismus wurde in Italien erfunden, wird er dort auch seine Renaissance erleben? Der Schweizer Historiker Aram Mattioli beschreibt, wie die italienischen Machthaber den Weg dafür bereiten. Seit Jahren finde eine Umwertung der faschistischen Ära statt. Gab es früher den öffentlichen Konsens, Mussolinis Politik hätte zur Ermordung einer Million Menschen geführt, herrsche in Italien heute eine "revisionistische Normalität" vor. Im Programm von Berlusconis Sendern werde zunehmend die Meinung laut, Mussolini sei vor allem ein tüchtiger Staatenlenker gewesen. Kritik am duce wird als verkopft und anti-italienisch dargestellt.
Opportunismus und Geschichtsvergessenheit
Matthias Dusini in FALTER 10/2010 vom 12.03.2010 (S. 38)
Italien: Ministerpräsident Berlusconi machte Faschismus-apologie und Duce-Bewunderung gesellschaftsfähig
Minister, die bei Veranstaltungen den rechten Arm zum "römischen Gruß" erheben, der Totenkult an Mussolinis Grabmal, sentimentale Filme über das Privatleben des Duce, rechtsradikale Slogans in Fußballstadien: Der Schweizer Historiker Aram Mattioli macht nach seinem Buch "Experimentierfeld der Gewalt" (2005) ein weiteres Mal Italiens Umgang mit der faschistischen Vergangenheit zu seinem Forschungsgegenstand.
Damals beleuchtete er die verdrängten Kriegsverbrechen während der Feldzüge Mussolinis in Afrika und auf dem Balkan, dieses Mal die zahlreichen neofaschistischen Phänomene im italienischen Alltag, der Politik, des Sports und der Massenmedien, die Mattioli den Schluss ziehen lassen: Der antifaschistische Konsens, der die italienische Nachkriegspolitik über die Parteiengrenzen hinweg kennzeichnete, hat seine Verbindlichkeit verloren. Unter den seit 1994 mit Unterbrechungen regierenden rechten Bündnissen von Ministerpräsident Silvio Berlusconi machte sich eine Erinnerungspolitik breit, die Mattioli eine "revisionistische Normalität" nennt. Faschismusapologie und Duce-Bewunderung seien nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Anfang der 90er-Jahre zerbrach das alte Parteiensystem an dem Korruptionsskandal der "Mani pulite". Nach dem überraschenden Sieg Berlusconis beteiligte sich der Movimento Sociale Italiano (MSI) an der Regierung – ein Tabubruch: Ausgerechnet in einem Land, das auf seine "Resistenza" stolz war, saßen rechtsextreme Politiker am Kabinettstisch. In der sogenannten Zweiten Republik wurden "die Grenzen des öffentlich Sagbaren neu vermessen". Dass die öffentliche "Apologie des Faschismus" eigentlich ein Strafbestand ist, kratzt schon lange niemanden mehr.
Mattioli versteht den Begriff Erinnerungskultur als "Geschichten über Geschichte". Die von Politikern, Journalisten und Regisseuren in Bezug auf die Vergangenheit verwendeten Bilder lassen Rückschlüsse auf die Grundwerte von Staat und Zivilgesellschaft zu. Dem historischen Fach selbst fällt eine wichtige Rolle zu. Mattiolis bekannter Kollege Renzo de Felice etwa verfasste einflussreiche Darstellungen über die 20 Jahre der Diktatur, in denen er die faschistischen Verbrechen als "sanftmütige" Ausgabe des Nationalsozialismus, als "Fascismo bonario", darstellt.
Die Missverständnisse beginnen aber bereits früher. Durch die mythische Überhöhung der Resistenza wurde die breite Zustimmung für das Regime ausgeblendet, das kollektive Vergessen zur Staatsdoktrin erhoben. Die linksorientierten Antifaschisten versäumten es, Mussolini als Chef eines Mörderregimes zu demaskieren. Die Massenmorde, Giftgasangriffe und Konzentrationslager in Libyen und Eritrea waren ohnehin nie ein Thema, ein internationales Tribunal gegen Kriegsverbrecher passte nicht in die Blockstrategie der Alliierten während des Kalten Krieges. Für ein ruhiges Gewissen sorgten auch die "bösen" Deutschen, die in den letzten Kriegsjahren von Verbündeten zu Feinden wurden.
Eine zentrale Rolle bei der Umdeutung des Faschismus ordnet der Historiker dem rechten Politiker Gianfranco Fini zu, der den MSI in die rechtsnationale, verfassungstreue Alleanza Nazionale umwandelte. "Wir sind weder Faschisten noch Antifaschisten. Wir sind Postfaschisten", lautete sein anfänglicher Slogan, dem weitere symbolische Schritte folgten. Finis ideologische Wendungen auf dem Weg zum staatsmännischen Image sind für Mattioli lediglich die Kosmetik für eine Aufwertung der faschistischen Herrschaft.
Silvio Berlusconi, diese Fusion aus apolitischem Opportunismus und strategischer Geschichtsvergessenheit, verhält sich gegenüber dem Fascio-Erbe notorisch unberechenbar: Berührungsängste mit strammen Rechten wie der Duce-Tochter Alessandra Mussolini kennt er nicht. Sein eigentlicher Gegner sind die Kommunisten, die seiner Meinung nach nicht nur die größten Verbrechen der Geschichte, sondern auch die ungerechtfertigten Gerichtsprozesse gegen seine Person verursachten. Mattioli dazu: "Er verwischt die Grenzen zwischen bürgerlich-konservativer und neofaschistischer Rechter systematisch."
Das Buch hält eigentlich nur fest, was täglich in den Zeitungen steht, und gleicht die italienische Erinnerungspolitik mit dem Wertekanon anderer europäischer Länder ab. Wäre Mattioli in einer italienischen Talkshow zu Gast, würde er wohl als elender Kommunist beschimpft werden. Seine empirische Besonnenheit hebt sich wohltuend von dem vulgären Tonfall ab, mit der Zeitgeschichte in der italienischen Öffentlichkeit zumeist verhandelt wird.