

Selbstverwirklichung als gemeinsame Erfahrung
Margaretha Kopeinig in FALTER 12/2023 vom 24.03.2023 (S. 20)
Auf den ersten Blick ist der Buchtitel "Gegen Chancengleichheit" eine einzige Provokation. Doch schon nach wenigen Seiten wird klar, was der spanische Soziologe, Professor an der renommierten Universidad Complutense in Madrid, mit seinem analytisch brillanten Text verfolgt: die Idee einer besseren Gesellschaft. Dabei ist Rendueles kein Gutmensch, kein radikaler Träumer. Er zeigt auf, wie sehr Egoismus Standard des Denkens und Handelns ist und in immer mehr gesellschaftliche Bereiche eindringt.
Differenziert erklärt er, dass die Forderung nach Gleichheit allein nicht genüge, um soziale Ungleichheit aufzuheben. "Gleichheit ist nicht Zielpunkt der Reise, sondern der Weg selbst", formuliert er im Epilog. Er beklagt, dass mit dem Verschwinden der Utopie einer materiell gleichen Gesellschaft immer mehr Platz für Vorschläge und Theorien liberalkonservativer und/oder autokratischer Denker geschaffen wird, die dann auch umgesetzt werden. Hingegen hat die politische Linke kaum mehr elaborierte, zeitgemäße Modelle und Alternativen anzubieten. "Die verantwortungslose, egoistische oder einfach nur lächerliche Anrufung einer radikalen persönlichen Freiheit ist zum Normalfall geworden", kritisiert Rendueles. Nahezu alle Parteien, auch sozialdemokratische, hätten die Forderung nach materieller Gleichheit aufgegeben. Bildung, Kultur, Politik und auch die Demokratie werden in der Zeit der "antiegalitären Wende" dem Diktat der Selbstoptimierung unterworfen.
Als "Trick" bezeichnet er die Umwandlung des Ziels der materiellen Gleichheit durch "Chancengleichheit". Ein "Trick" sei nämlich, dass das Versprechen, jeder könne die Welt der Elite, der Oberschicht, erreichen, uneinlösbar sei, denn die Mechanismen der sozialen materiellen Ungleichheit wirken weiter, weil den Unterprivilegierten die kulturellen Techniken fehlen.
Ein Instrument auf dem Weg zu mehr Gleichheit bzw. auch Freiheit ist für den Professor die individuelle Fähigkeit der Auseinandersetzung. Das heißt, die anderen zu verändern durch die eigenen Argumente und sich zu verändern durch die Argumente der anderen. Diese "Deliberation", abgeleitet vom lateinischen Verb für "verhandeln", ist der methodische und inhaltliche Schlüssel für mehr Gemeinschaft.
Mit der Fähigkeit zum Gespräch ergeben sich auch Schritte zu mehr Egalität. Anschaulich stellt er das in seinem Kapitel "Frauen, Männer und alle anderen", in dem es um Geschlechtergerechtigkeit geht, vor. Der lange Kampf der Beziehungen zwischen Männern und Frauen zeigt die Transformation zu einem egalitären Zustand auf, weil sich diese Gleichheit am Ende auch messen lässt (zum Beispiel an Gehältern und an der Gender-Balance) und am Ende zu mehr Freiheit führt. "Wenn Gleichheit zunimmt, nimmt auch Freiheit zu", schreibt César Rendueles. Denn: "Selbstverwirklichung ist nur als gemeinsame Erfahrung möglich."
Der philosophische Vordenker der neuen südeuropäischen Linken macht in seinem Text auch deutlich, dass sich das soziale Projekt einer egalitären Welt nicht von heute auf morgen verwirklichen lässt. "Keine Revolution als Exzess", formuliert es Rendueles. Notwendig jedenfalls sei aber eine "umfassende Veränderung" der ethischen Perspektive. Diese werde kommen, erklärt der Soziologe. Die Erfahrungen der Pandemie, die Klimakrise, Ressourcenknappheit, Inflation und Krieg machen die Ungleichheit noch größer und lassen der Menschheit keine andere Option als die stärkere Fokussierung auf das Gemeinwohl.