

Gekommen, um anders zu bleiben
Thomas Walach in FALTER 27/2024 vom 05.07.2024 (S. 20)
Die AfD ist in Ostdeutschland sehr stark, aber im EU-Vergleich dann doch wieder nicht. Zeigt das die neue „Normalität“?
Die Deutschen: Laut einer Studie im Auftrag der deutschen Botschaft kommen die meisten Österreicher gut mit ihren Nachbarn aus – auch wenn viele finden, sie seien rechthaberisch und würden andere oft von oben herab behandeln. Ganz ähnlich denken viele Ostdeutsche über die „Wessis“ – nur, dass sie seit gut 33 Jahren einen Staat mit ihnen teilen. Jedes Jahr legt die Bundesregierung in einem Bericht Rechenschaft über den „Stand der deutschen Einheit“ ab. Und allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass die „Neuen Länder“ nicht werden wie die alten. Davon ist der Soziologe Steffen Mau überzeugt. In seinem Buch „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“ vertritt Mau die These, dass der Osten anders bleiben wird als der Westen.
Als Gesellschaft haben die Ostdeutschen durch die Einheit eine Deklassierungserfahrung gemacht. Die Einheit, das bedeutete stets: Die Ostdeutschen sollten so werden wie ihre Nachbarn im Westen. Man hat nicht gemeinsam einen neuen Staat gegründet, sondern die BRD hat sich die ehemalige DDR einverleibt; die Bundesregierung hat einen Ostbeauftragten, aber keinen Westbeauftragten; der Osten ist und bleibt in dieser Sichtweise der Sonder- und Problemfall.
Die gegenwärtige Selbstsicht im Osten speist sich laut Steffen Mau weniger aus der Erinnerung an die DDR, sondern aus dem Gefühl, die Abweichung von der deutschen Norm darzustellen. Folgerichtig gibt es eine ostdeutsche, aber keine westdeutsche Identität. Demografisch gesehen ist der Osten eine Randnotiz. Die neuen Länder haben ohne Berlin zusammen weniger Einwohner als Bayern. Und während der Westen wächst, schrumpft die Einwohnerzahl im Osten. Zwar ist immerhin die Abwanderung in den Westen gestoppt, aber gerade den ländlichen Gebieten kommen die Menschen abhanden, die Frauen zumal. Wer zurückbleibt, fühlt sich verlassen und ist anfällig für eine trotzige Defensivmentalität.
Wer in der DDR aufwuchs, hat Parteien nicht als Plattformen politischer Teilhabe, sondern als Instrumente des SED-Regimes erlebt. Politische Willensbildung hieß daher im Osten: sich abarbeiten an „denen da oben“. In der kurzen demokratischen Phase vor der Wiedervereinigung drückte sich politischer Gestaltungswille nicht durch Parteien, sondern auf der Straße, in losen Bürgerbewegungen und am „Runden Tisch“ aus.
In diese Kerbe schlägt die AfD, die sich, wie rechtspopulistische Parteien überall in Europa, als Anti-System-Partei geriert. Über die „Brandmauer“ zu den Rechten lasse sich in der Münchner Altbauwohnung leicht reden, stellt Mau fest. Wenn die Rechten aber die Kindergärtnerin, der Bäcker und die Freunde im Kegelklub seien, sehe die Sache anders aus. Die Ostdeutschen fremdeln demnach nicht mit der Demokratie an sich, sondern mit der Parteiendemokratie westdeutscher Prägung. Maus Lösungsvorschlag: Bürgerräte. Die kämen dem ostdeutschen Demokratieverständnis näher. Die Gegenargumente – Bürgerräte sind nicht repräsentativ, sie entscheiden oft zu Lasten von Minderheiten usw. – liefert Mau gleich mit und versucht gar nicht erst, sie zu entkräften. Man solle es trotzdem versuchen, denn das andere habe ja nicht geklappt.
An dieser Stelle mag man als Österreicher widersprechen. Immerhin wählen drei Viertel der Ostdeutschen die AfD nicht, ein guter Schnitt im EU-Vergleich. Schleicht sich hier etwa der Sonderfall Westdeutschland als Norm ein, an dem man die Demokratie im Osten zu messen habe?