

Lebt man spektakulär, macht man’s sich auch schwer
Klaus Nüchtern in FALTER 27/2019 vom 05.07.2019 (S. 19)
Der Publizist und Psychologe Carlo Strenger hat den Todfeind des Rechtspopulismus therapiert: die liberalen Eliten
Es ist gewiss kein Fehler, Carlo Strenger als „streitbar“ zu apostrophieren. Der in der Schweiz geborene Psychologe und Publizist, der an der Universität von Tel Aviv unterrichtet, hat zuletzt auf Deutsch zwei schlanke Bücher veröffentlicht, in denen er die gerne als „westlich“ bezeichneten liberalen Werte nicht nur gegen Fundamentalisten und Populisten, sondern auch gegen eine Form von politischer Korrektheit verteidigt, die sich in Selbstzerknirschung übt und den universalistischen Anspruch der Aufklärung als Kulturlüge entlarvt.
Nach „Zivilisierte Verachtung“ (2015) und „Abenteuer Freiheit“ (2017) ist nun Strengers dritter Band in dieser einheitlich gestalteten Reihe erschienen. Das Cover zieren nun nicht die Freiheitsstatue bzw. Eugène Delacroix’ berühmte barbusige Marianne („Die Freiheit führt das Volk“), sondern die Silhouetten von Menschen, die Rollkoffer hinter sich herziehen oder auf ihr Smartphone blicken. Es sind Vertreter jener Klasse, in denen der Rechtspopulismus dies- und jenseits des Atlantik seinen Todfeind ausgemacht zu haben scheint: „Diese verdammten liberalen Eliten.“
Im Prolog nimmt Strenger noch einmal die tektonischen Verschiebungen in der politischen Landschaft des 20. und 21. Jahrhunderts in den Blick und identifiziert die den Liberalismus von innen her bedrohende nationalpopulistische Wende, die im atlantischen Westen ebenso zu beobachten ist wie im europäischen Osten, als jüngsten Paradigmenwechsel: Liberalismus und Autoritarismus bzw. Universalismus und Nationalismus bildeten die Blöcke der neuen Welt(un)ordnung.
Aber nicht nur die politische Großwetterlage, auch der Tonfall des Wettermoderators hat sich geändert: So eindeutig er sich auch positioniert, zeigt Strenger doch auch Verständnis für jene bildungs- und einkommensfernen Schichten, die ständig belehrt, bedauert und beschämt werden und sich – zum Entsetzen ihrer „Erzieher“ – autoritäre Politiker wählen, die ihnen vielleicht nicht zu mehr Recht oder (besseren) Jobs, aber zu einem optimierten Selbstwertgefühl verhelfen.
Schlüsselwort Selbstwertgefühl
Womit wir schon bei einem Schlüsselbegriff wären. Einerseits, weil angesichts der Übernahme der Identitätspolitik durch die Rechte auch die vulgärsten Materialisten dahinter gekommen sein dürften, dass ökonomisches Kapital nicht alles, ja vielleicht nicht einmal die härteste politische Währung ist; andererseits, weil selbst die hypermobilen und leistungsfixierten Angehörigen der liberalen Eliten von Selbstverachtung und der niederschmetternden Überzeugung geplagt werden, nichts von bleibendem Wert geschaffen zu haben (so sehr ihr Erfolg auch dagegen spricht).
Woher man das weiß? Weil sie auf der Couch von Carlo Strenger lagen oder, besser gesagt, diesem, wann immer es ihr fordernder Lebenswandel es zuließ, in Skype-Sitzungen ihr Leid klagten.
In fünf Fallbeispielen führt der Autor vor, wie Menschen, die im beruflichen Umfeld hochprofessionell agieren, mit ihrer familiären Herkunft oder ihrer sexuellen Orientierung hadern, zwanghaft ihre Partner betrügen, sich als Hochstapler vorkommen und letztendlich doch das Gefühl haben, „dem kategorischen Imperativ der neuen Kosmopoliten nicht gerecht zu werden, der da lautet: Lebe
spektakulär und verändere die Welt!“
Stärken und Schwächen
Strenger bietet also buchstäblich eine „Innensicht“ der vielgeschmähten Eliten. Allerdings musste er, um die Identität seiner Patienten zu schützen, die Porträts aus den Geschichten verschiedener Menschen zusammensetzen, und sein Beteuern, dass dies die „einzig vertretbare Form der Fallstudienveröffentlichung“ sei, zerstreut die Zweifel an der Seriosität des Unterfangens nicht vollends. Und die politischen Konsequenzen? „Wir müssen uns die Hände schmutzig machen“, fordert Strenger im Epilog. Ja eh. Vielleicht handelt sein nächstes Buch davon, wie es ihm dabei ergangen ist.