

Vom Adenauer-Mief bis in die neoliberale Machtlosigkeit
Rudolf Walther in FALTER 31/2013 vom 02.08.2013 (S. 18)
Schade, dass der zwölfte Band der "Kleinen politischen Schriften" von Jürgen Habermas wahrscheinlich der letzte sein wird
Was Jürgen Habermas – außer seiner immensen Produktivität – auszeichnet, ist seine rigorose Trennung zwischen der Funktion des Wissenschaftlers und jener des politisch intervenierenden Intellektuellen. Dieser Arbeitsteilung verdankt sich auch die Reihe seiner "Kleinen politischen Schriften", deren erster Band 1981 erschien. Als Intellektueller sieht sich Habermas der "Praxis öffentlicher Belästigung" verpflichtet, womit er eine "argumentative Beihilfe zum fortlaufenden Prozess der öffentlichen Meinungsbildung" meint. Wenn das Wort nicht so fahrlässig verschlissen wäre, könnte man vom "politischen Aufklärer" Habermas sprechen.
Über das Etikett "Governance"
Habermas' "Kleine politische Schriften" reagieren auf die aktuelle Weltlage. Darunter fallen Reden bei Preisverleihungen oder Laudationes, vor allem aber Reden, Essays und Interviews, die sich auf politische Probleme beziehen. Im zwölften Band bildet den politischen Schwerpunkt der Ernstfall, das heißt "die europäischen Dinge", die Habermas seit über 20 Jahren beschäftigen. Von den zwölf Texten handelt die Hälfte von "europäischen Zuständen" und dem Problem der Aushöhlung der Demokratie durch ein technokratisches Regime unter dem Etikett "Governance".
Eingerahmt werden diese Beiträge von drei Vorträgen zum Verhältnis von Juden und Deutschen, ein Thema, "das den empfindlichsten Nerv unseres politischen Selbstverständnisses berührt". Die drei Texte handeln von Martin Buber, Heinrich Heine und jüdischen Philosophen und Soziologen, die nach 1945 in die BRD zurückkehrten. In letzterem berichtet Habermas über seine eigene Bildungsgeschichte als junger Wissenschaftler in der vom Kalten Krieg und dem Adenauer-Mief verbiesterten Atmosphäre. Er erinnert neben bekannten Rückkehrern wie Adorno und Horkheimer auch an akademische Außenseiter wie Alfred Sohn-Rethel, Ulrich Sonnemann und Günther Anders. Auch die Liste der "Nicht-Zurückgekehrten" ist lang und reicht von Wittgenstein und Benjamin bis zu Hannah Arendt und Leo Strauss. Habermas' Fazit: "Die politische Kultur der alten Bundesrepublik" verdankt "ihre zögerlichen Fortschritte in der Zivilisierung ihrer Einstellungsmuster zu einem guten, vielleicht ausschlaggebenden Teil jüdischen Emigranten".
Die Beiträge zu Europa stehen im Bann der seit 2007/08 herrschenden Wirtschafts-, Währungs- und Schuldenkrise, der "Erpressung der Eurostaaten durch die Finanzmärkte" und des technokratischen Krisenregiments der Troika aus Europäischer Kommission, IWF und EZB. Diesem Krisenmanagement fehle es an demokratischer Legitimität und politischer Perspektive. Habermas plädiert für eine "Verschiebung der Gewichte zwischen Politik und Markt" zugunsten von mehr Demokratie und Europa, um den Praktiken "neoliberaler Selbstentmächtigung" ein Ende zu bereiten. Politisch verstandene Solidarität der reichen EU-Staaten mit den armen Ländern des Südens sei keine moralisierende Forderung, sondern eine Konsequenz aus der "normativen Verpflichtung" (Claus Offe) des Exportvizeweltmeisters Deutschland, das noch von der Krise profitierte und durch diese die Kosten für seine Kreditaufnahme verbilligte, während die Zinslasten der armen Länder stiegen.
Gegen Rosstäuscherparolen
Habermas geriert sich weder als EU-Prophet noch als "Realpolitiker", der sich in "zynischem Defaitismus" einrichtet, sondern sieht in der Errichtung einer "politischen Union" auf der Basis einer "supranationalen Demokratie" eine Chance. Darin unterscheidet er sich von der Diagnose des Soziologen Wolfgang Streeck in dessen erfolgreichem Buch "Gekaufte Zeit". Streeck verabschiedet sich darin von der EU und vom Euro und plädiert für eine Rückkehr zu mehr nationalstaatlicher Souveränität. Habermas sieht darin einen historischen Fehler. Mit starken Argumenten warnt er vor einer "Umfälschung von sozialen in nationale Fragen" mit den Rosstäuscherparolen "Nation" und "Identität".
Den Band beschließen Festreden für Ralf Dahrendorf, den Psychologen und Primatenforscher Michael Tomasello sowie eine mit Witz und Selbstironie gespickte Dankesrede zur Verleihung des Kulturellen Ehrenpreises der Landeshauptstadt München. Nach der Lektüre von Habermas' brillanten Reden und Essays betrübt nur eines: Der 84-Jährige kündigt an, der zwölfte sei der "voraussichtlich letzte Band".