

Fremd in der eigenen Welt: Was ist das für ein Land?
Rudolf Walther in FALTER 39/2014 vom 26.09.2014 (S. 21)
Je länger man Europa vernünftig anschaut, desto unvernünftiger schaut es zurück." Mit diesem Satz beginnt der Soziologe und Philosoph Hauke Brunkhorst sein Buch über Europa und die gedanklichen Wurzeln der Union. Er dreht damit einen Satz des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegels um, der noch der Meinung war, man müsse nur vernünftig in die Geschichte hineinsehen, dann schaue sie auch vernünftig zurück.
Brunkhorsts Kernthese lautet wie folgt: In Europa, das heißt, in der EU, läuft vieles von Anfang an verkehrt, auch wenn die europäische Einigung noch so oft als erfolgreiches Projekt gelobt wird, dem zuletzt der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Die Friedens- und Weltbeglückungsrhetorik, mit der die Geschichte der EU besungen wird, ist verlogen, denn am Anfang der europäischen Einigung stand die doppelte Verdrängung ihres wirklichen Ursprungs.
Diese zeichnet Brunkhorst detailliert nach. Verdrängt wurde der emanzipatorische Anspruch, mit dem die europäische Einigung 1945 begann. Und verdrängt wurde die koloniale Unterdrückung, in die europäische Staaten bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts verwickelt waren; etwa das Frankreich der Vierten Republik, das Algerien mit einem brutalen Krieg und Folter an sich binden wollte.
Dominanz des Kalten Krieges
Beginnend noch in der Kriegszeit und sich verstärkend nach 1945 gab es starke proeuropäische Impulse von progressiven wie konservativen Intellektuellen und zahlreichen europäischen Bewegungen von unten.
Auf Mussolinis Gefangeneninsel Ventotene entwarfen 1941 drei Kommunisten (Altiero Spinelli, Ernesto Rossi, Eugenio Colorni) das "Manifest von Ventotene", in dem sie für Föderalismus, Demokratie, Sozialstaat und gemischte Eigentumsformen plädierten.
Die politische Philosophin Hannah Arendt hielt 1945 einen "wirklichen Frieden" nur für möglich, "wenn Nationalstaaten einen Teil ihrer ökonomischen und politischen Souveränität einer höheren gesamteuropäischen Autorität übertragen". 1946 redete Winston Churchill in Zürich über die Vereinigung Europas.
Als 1951/52 die Montanunion und 1957 die "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" (EWG) gegründet wurden – der Kern der heutigen EU –, war der proeuropäische Aufbruch ebenso vergessen und verdrängt wie die "Geschichtszeichen" vom 2. Februar 1943 (Stalingrad), vom 6. Juni 1944 (Normandie) und vom 26. Juni 1945 (UN-Charta), das heißt, die militärische Befreiung vom Faschismus und vom Nationalismus.
Doch an die Stelle des Stolzes über die Befreiung Europas und der intellektuell-politischen Perspektive eines Europas jenseits von Nationalismus traten nun fast über Nacht der grobschlächtige Antikommunismus und die Ideologie des Kalten Krieges.
Von Anfang an trug die europäische Einigung ein Doppelgesicht, das die EU bis heute prägt. Brunkhorst arbeitet die Konturen dieses Doppelgesichts deutlich heraus.
Ein Gesicht zeigt die Logik der Emanzipation, das andere die Logik technokratischer Verwaltung. Im Anschluss an den finnischen Völkerrechtler Martti Koskenniemi nennt Brunkhorst die beiden Logiken den "Kantian constitutional mindset" und den "managerial mindset", also die an den Philosophen Immanuel Kant anschließende, rechtlich grundierte und emanzipatorische Orientierung und die wirtschaftlich-technokratisch geprägte Orientierung.
In den 1950er-Jahren zeigte sich das Doppelgesicht in der Kontroverse zwischen dem sozialistischen Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth und dem konservativen Staatsrechtler Ernst Forsthoff. Abendroth suchte nach einem parlamentarischen Weg zum Sozialismus, und Forsthoff plädierte für einen autoritären Rechtsstaat unter der Oberherrschaft des Ordo- bzw. Neoliberalismus.
Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Brunkhorst will die beiden Gesichter beziehungsweise Logiken nicht gegeneinander ausspielen, denn sie waren in der Geschichte der EU immer gleichzeitig präsent in ständigem Gesichtswechsel und in Dauerkonflikten wie in der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Während Dr. Jekyll für mehr Demokratie, Transparenz und Partizipation eintrat, setzte Mr. Hyde auf Rentabilität, Effizienz, Wachstum und Expertokratie. Es wäre naiv, der einen Logik das Gute und der anderen das Böse zuzurechnen.
Auch die wirtschaftlich-technokratische Profitlogik folgt nicht bloßer Willkür, sondern steht auch für Recht und Verfassung ein. "Das ist nicht nichts und nicht zu verachten" (Brunkhorst), aber diese Logik bremst Alternativen ebenso aus wie die rechtlich-emanzipatorische Perspektiven der anderen Logik.
Während nach der einen Logik Experten Kompromisse hinter verschlossenen Türen auskungeln, ist für die andere Logik Politik ein offener Prozess, der auch Alternativen zum Business as usual zulässt.
Europa als sanfte Zivilisatorin
Europa hat das Recht, insbesondere das Völkerrecht, nicht als "gentle civilizer of Nations" (Koskenniemi) gestärkt, sondern verfolgte weiterhin den Kurs der strategischen Instrumentalisierung des Völkerrechts für partikulare Zwecke aller Art.
An Büchern zu Europa herrscht momentan kein Mangel auf dem Markt. Aber kein Autor argumentiert so scharfsinnig und präzis wie Brunkhorst, dessen brillantes Buch gründlich belehrt und obendrein gut unterhält. Besseres kann man mit politisch-historischer Aufklärung nicht leisten. Ein Lichtblick in der unübersichtlichen Europa-Literatur.
Europa spannend erklärt mit Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Isolde Charim in FALTER 20/2014 vom 16.05.2014 (S. 20)
Die Geschichte der Union ist fad? Von wegen! Der Soziologe Hauke Brunkhorst hat den besten Reader zu den EU-Wahlen geschrieben
Das ist ein fulminantes Buch. Wenn Adjektive in Rezensionen nicht so abgelutscht klingen würden, dann müsste man glatt schreiben: brillant und leidenschaftlich, komplex und spannend – alles gleichzeitig und ohne dass es sich widersprechen würde. Denn es ist eine alte linke Wahrheit, dass Analysen parteiisch sein müssen, dass gute Analysen leidenschaftliche Plädoyers sind.
Punktgenau zu diesen so wichtigen Europa-Wahlen legt Hauke Brunkhorst sein Buch: "Das doppelte Gesicht Europas. Zwischen Kapitalismus und Demokratie" vor. Es ist dies eine Bestandsaufnahme von Geschichte und Gegenwart der Europäischen Union. Dass dies keine lineare Erzählung sein kann, zeigt schon die titelgebende Doppelheit an: Europa hat nicht zwei, es hat ein doppeltes Gesicht – weshalb Brunkhorst auch von Dr. Jekyll und Mr. Hyde spricht (dem Paradigma für eine gespaltene, widersprüchliche Identität).
Die Verdoppelung Europas ist jene zwischen der "Logik der Emanzipation" und der "Logik der technokratischen Verwaltung". Und gerade jetzt, wo es Mr. Hyde gelungen ist, sich mit der EU gleichzusetzen – EU = Wirtschaftsverfassung –, ist es umso nötiger, an das andere Gesicht zu erinnern und dessen verschlungene Wege nachzuzeichnen.
Als engagierter Vertreter von Dr. Jekyll bestimmt Brunkhorst diesen als "Kantian mindset" – als jene republikanische Haltung, Verfassung, Lebensform, die den Ursprung des europäischen Projekts gebildet hat und auch in dem "abgeschotteten Eliteprojekt" zu dem Europa geworden ist, dennoch immer wieder zu Wort meldet. Wobei er sofort deutlich macht, dass dieses verdrängte emanzipatorische Potenzial sich keineswegs in feierlichen Erklärungen und kitschiger Friedensrhetorik erschöpft. Es ist vielmehr die Spur der republikanischen Widerstände, der er folgt.
Schlüsselrolle des Europarechts
Diese führt ihn zur europäischen Rechtssprechung. Brunkhorst zeichnet nach, wie es seit den 1960er-Jahren infolge der Aktivitäten des Europäischen Gerichtshofs auf den langen Klagewegen zu einer neuen Entwicklung kam. Hier hat sich die Herrschaft des Europarechts jenseits der Nationalstaaten etabliert und die Rechte seiner Bürger durchgesetzt. Denn Europarecht bedeutet, dass alle Europäer einklagbare Bürgerrechte haben. "Serien individueller Klagen erzeugten Zug um Zug die europäische Rechtsverfassung" – die den einzelnen Bürger ermächtigt und die Fiktion einer autonomen europäischen Bürgerschaft verwirklicht. Juristisch gibt es also bereits einen europäischen Demos. Natürlich ist aber auch der Europäische Gerichtshof ambivalent und kann durchaus konservativ sein. Aber wenn es gutgeht, dann hält das Gericht, so Brunkhorst, den "Platz für die noch nicht realisierte Demokratie frei".
Aber das reicht natürlich taktisch nicht aus, um Mr. Hyde zu stoppen – jenes andere Gesicht Europas, das Brunkhorst als "kollektiven Bonapartismus" einer unheilvollen Allianz von Investoren und demokratischen Staaten bezeichnet. Es reicht aber auch demokratisch nicht aus. Genau deshalb bedarf es eines starken Europäischen Parlaments. Brunkhorst würdigt durchaus das Erstarken des EU-Parlaments. Gleichzeitig aber ist es ein Parlament ohne außerparlamentarisches öffentliches Leben. Die Nachricht von der Stärke des Europaparlaments bedurfte juristischer Forschung und wissenschaftlicher Publikationen, um sich zu verbreiten. Am Ohr der breiten Öffentlichkeit sei diese Nachricht, so Brunkhorst, vorbeigegangen.
Das Buch schreibt aber keineswegs eine kontrafaktische Erfolgsgeschichte des kantianischen Dr. Jekyll. Ganz im Gegenteil. Und so kommt es unweigerlich zu der unvermeidlichen Frage: Was tun? Wer das wüsste, lautet die seufzende Antwort. Um dann aber doch Strategien zur Eindämmung der "Liberalisierungsmaschine" zu skizzieren.
Transnationale Arbeiterbewegung
Ist ein Weg zurück in den Nationalstaat als Festung gegen die Globalisierung, wie ihn Wolfgang Streeck vorgeschlagen hat, ein Ausweg aus dem "ökonomischen Belagerungszustand", in dem das Kapital Europa hält?
Brunkhorst hält dem ein sehr explizites Nein entgegen. Nein, denn es würde nichts daran ändern, dass der soziale Klassenkampf zum nationalen Existenzkampf umgepolt wurde. Nein, denn die Folgen wären ökonomisch unabsehbar und normativ ein Rückschritt. Und so optiert Brunkhorst für die Flucht nach vorne.
Hat sich das Kapital in rasender Geschwindigkeit transnationalisiert, so gelte es jetzt – gerade in dem "Augenblick, in dem die alten Klassenkonflikte wieder manifest werden" – auch den demokratischen Klassenkampf zu transnationalisieren. Da ist es – das Klassenkampfwort. Ganz unaufgeregt kehrt es zurück.
Und mit ihm das ganze klassische Setting: eine europäische Öffentlichkeit, ein starkes EU-Parlament (mit Martin Schulz in der Rolle des Dr. Jekyll), Sozialstaatsverbünde und transnationale Gewerkschaften, die "glaubwürdig" mit transnationalen Streiks drohen können. Kurzum – Brunkhorsts Programm ist das einer transnationalen Rekonstruktion der Arbeiterbewegung.
Natürlich ist ihm bewusst, dass eine solche nicht vor der Türe steht (auch wenn es heute weniger absurd erscheint als noch vor ein paar Jahren). Und so setzt er auf die Krise und die mit ihr einhergehenden öffentliche Konflikte, um jene Mobilisierung zu bewirken, jene Reaktivierung der "Passivbürger", die es braucht, um die Investorenverfassung des Mr. Hyde in eine Sozialstaatsverfassung Europas zu verwandeln. Das Buch sei, heißt es am Anfang, angesichts der Lage "hilflos, aber nicht ohne Hoffnung".