

Wie die Linke auf falsche Bahnen geraten ist
Robert Misik in FALTER 31/2014 vom 30.07.2014 (S. 17)
Antiinstitutionelles Sektierertum mag romantisch sein – aber gegen den Neoliberalismus hilft es nicht, kritisiert Chantal Mouffe
Chantal Mouffe ist in der akademischen, unorthodoxen, radikalen und kunstaffinen Linken, in der man das elementare Dagegensein hochhält und mit normaler Politik – notabene Parteipolitik – schon aus Lebensstilgründen nichts zu tun haben will, seit Jahren eine große Nummer. Bedenkt man, wie schnell man in den Augen der Bewohner dieser nicht immer unhysterischen Blase vom guten Radikalen zum bösen reformistischen Verräter werden kann, ist es erstaunlich, nein: regelrecht mutig, wie Mouffe in ihrem neuesten Buch gegen den Common Sense dieses Justemilieu anschreibt.
"Agonistik" markiert zwar keine Wende in Mouffes Denken, aber doch ein Ankommen im Sozialdemokratischen – jetzt nicht im Parteisinn, aber im Ideensinn. Jenen, die einen horizontalen, antiinstitutionellen Aktivismus einer "Multitude" hochhalten und (irgendwie "revolutionär") die Repräsentationsmodelle der "alten Linken" kritisieren, sagt sie: "Was wir infrage stellen müssen, ist nicht die Idee der Repräsentation an sich, sondern der Mangel an Alternativen, die den Bürgern angeboten werden."
Die Energien von Bewegungen wie Occupy oder den spanischen Indignados drohen zu verpuffen, wenn sie sich gegen jede institutionalisierte Politik richten und unfähig bleiben, realpolitische Bündnisse einzugehen: "Um die neoliberale Hegemonie allerdings wirkungsvoll anzugreifen, ist es entscheidend, die zum Vorschein gekommene Energie nicht in die falschen Bahnen zu lenken. Meine Befürchtung ist, dass genau das passieren könnte", schreibt Mouffe.
Eine Linke widerspricht der Linken
Aber der Reihe nach. Mouffe spinnt in den sechs Aufsätzen ihres neuen Buchs die Fäden weiter, die sie seit nunmehr beinahe zwei Jahrzehnten, nicht zuletzt in "Über das Politische" und "Das demokratische Paradox", knüpft. Deren Grundthese lautet: Zu viel Konsens schafft Konflikt. Konsens, der den Konfliktcharakter des Politischen leugnet, ein neoliberal angekränkeltes Einheitsdenken (etwa in Gestalt des Blair'schen "Dritten Weges" oder der Schröder'schen "Neuen Mitte"), führt nicht zum Konsens, sondern öffnet Raum für Politikverdrossenheit und rechtspopulistische Revolten.
Gehegter Grundsatzkonflikt dagegen hält die Politik lebendig. Demokratische Politik muss demnach den Mittelweg zwischen Konsens und antagonistischem, zugespitztem Konflikt finden. Das meint Mouffe mit dem Begriff des "Agonismus", der ihrem neuen Buch den Titel gab. Agonistischer Konflikt leugnet den Konfliktcharakter des Politischen nicht, vermeidet aber, dass er zu einem antagonistischen wird.
Die neoliberale Hegemonie gilt es nicht nur zu dekonstruieren, sondern tatsächlich herauszufordern: in Form eines neuen Projekts, das seinerseits zum Ziel hat, die Hegemonie zu erobern. Die Entfremdung von der EU gehe, beispielsweise, "auf das Fehlen eines Projekts zurück, das unter den europäischen Bürgern ein starkes Identitätsgefühl entstehen lassen und ein Ziel darstellen könnte, das ihre politischen Leidenschaften in demokratische Bahnen lenkt. (
) Das Ziel eines solchen Projektes sollte meiner Ansicht nach das Anbieten einer Alternative zum in den vergangenen Jahrzehnten vorherrschenden neoliberalen Modell sein."
Ein Plädoyer für die Institutionen
Wie aber könnte das gehen? Sicher nicht, indem man den "hegemonialen" Institutionen den Rücken zukehrt und aus dem Staat "auswandert", in eine innere Gegenwelt der Basisbewegungen.
Weite Strecken des Buches wenden sich daher gegen die antipolitischen Affekte der zeitgenössischen Linken. Die neuen Netzwerke von "Bewegungen ohne Anführer" haben schon ihre Meriten, aber jenseits der romantischen Verklärung sollte man sich langsam doch der Frage stellen, warum sie stets vollkommen erfolg- und folgenlos versanden und sie es sogar schaffen, sich mit mehrheitsfähigen Forderungen zu isolieren.
Ambitionierte, radikale Reformpolitik müsse daher, so Mouffe, auf neue Formen von Bündnissen setzen, von Parteien, Institutionen, Leuten in den Medien, Bewegungen, Zivilgesellschaft, Gewerkschaften usw. Antiinstitutionelles Sektierertum tut für solche Bündnisse aber nichts – es erschwert sie nur. Mouffe: "Für eine tatsächliche Veränderung der Machtverhältnisse bedarf es institutioneller Bahnen."
So grundsätzlich bedenkenswert Mouffes Thesen sind, so vage bleiben sie im praktisch-empirischen. Wie genau wir zu dem anti-neoliberalen gemeinsamen Projekt für EU-Europa kommen können, wird nicht einmal angedeutet. Mouffes Lieblingsbeispiel für einen neuen sozialreformerischen Block ist Griechenland, mit der linken Syriza-Partei auf der einen Seite und den Basisbewegungen auf der anderen Seite. Nun ist Griechenland nach dem Totalkollaps der klassischen sozialdemokratischen Pasok-Partei natürlich ein Sonderfall. Ob anderswo die Parteien der traditionellen Sozialdemokratie in ihrem Konzept eine Rolle spielen – und wenn ja, wie man sie dazu bringen könnte, wie man ihnen wieder sozialreformerisches Leben einhauchen könnte (oder ob sie untergehen müssen) –, darüber verliert die Autorin kein Wort. Und das ist ja nicht gerade eine nebensächliche Frage.
Setzt Mouffe auf einen Reformblock, der aus repolitisierter Sozialdemokratie, anderen Linksparteien, Gewerkschaften und Bewegungen besteht? Man kann es nur ahnen, dass es so ist – explizit bleibt sie jeden Hinweis schuldig.
Chantal Mouffe sagt ein paar wichtige Wahrheiten. Und bleibt dann doch irgendwie auf halbem Weg stehen. Mag sein, dass sie es sich mit ihrem Milieu dann doch nicht vollends verscherzen wollte.
Aber das ist auch nicht so schlimm. Man kann ja selber weiterdenken.