

„Das Adressbuch“ oder: Stalking als Kunstform
Thomas Ballhausen in FALTER 5/2020 vom 31.01.2020 (S. 32)
Es sagt sich so leicht, man würde jemanden kennen, vielleicht sogar gut kennen. Die Konventionen des Umgangs erlauben ein beruhigendes Beharren auf dem Wissen über den anderen, und die geteilten Geschichten und Geheimnisse stiften Identität und Gesellschaft.
Die für ihre Radikalität bekannte französische Künstlerin Sophie Calle ließ es dabei nicht bewenden, wie man nun in ihrem „Adressbuch“ nachlesen kann. Die erstmals 1983 in der Tageszeitung Libération veröffentlichten Kolumnen sind das poetische Zeugnis einer Annäherung ungewöhnlicher, beunruhigender Art. Dem schön gestalteten Buch liegt tatsächlich ein Adressbuch zugrunde – ein Zufallsfund, den Calle kopiert und zum Ausgangspunkt einer detektivischen Grenzüberschreitung macht.
Deklariertes Ziel ist, dem ihr unbekannten Besitzer des Verzeichnisses, Pierre D., ausschließlich über die darin aufgelisteten Personen näher zu kommen. Entlang selbstgewählter Leitlinien und Beschränkungen entwickelt Calle eine programmatische Verschränkung von Privatem und Öffentlichem, das dem Prinzip des Zufalls geschuldet ist. Die Begegnungen mit Freunden, Bekannten und Kollegen des Mannes sind Momentaufnahmen, eine Sammlung aus 28 unterschiedlichen, überraschend selten ablehnenden Reaktionen.
Fakten, Mutmaßungen und Anekdoten reichern das Bild eines scheuen Romantikers an, das Calle sich ausmalt; auf die Kopie des Adressbuchs folgt die einer Person. Ergänzt um weitere Belege wie Fotografien, Filmaufnahmen, Postkarten oder gar ein Kündigungsschreiben tastet sie sich weiter an ihren Entwurf heran. Parallel dazu vollzieht sie eine räumliche Annäherung, die sie über das Stadtviertel schließlich bis an die Wohnungstüre des Verfolgten führt.
Calles letzter Text, eine Art Abschiedsbrief, bleibt nicht der Schlusspunkt der Unternehmung. Pierre D. macht eine Nacktaufnahme aus ihren Zeiten als Stripperin ausfindig, die in der Folge ebenfalls von Libération veröffentlicht wird – eine Entblößung gibt die nächste. Begegnet aber ist man sich nie.