

Viel Scham, wenig Charme
in FALTER 41/2022 vom 12.10.2022 (S. 33)
Die Schwedische Akademie ist nicht zu beneiden. Mit der Vergabe des Nobelpreises für Literatur kann sie kaum etwas richtig, aber viel falsch machen. Ob die ewig Genannten leer ausgehen (Philip Roth) oder den Preis schließlich doch noch bekommen (Bob Dylan); ob sie ihn viel zu spät bekommen (Doris Lessing), ein kopfschüttelndes "Wer zum Teufel ?" (Jean-Marie Gustave Le Clézio) oder ein "Na klar, ein Schwede!" (Tomas Tranströmer) auslösen, genörgelt wird fast immer.
Was also ließe sich an der jüngsten Entscheidung, den Preis der 82-jährigen Annie Thérèse Blanche Ernaux zuzusprechen, bekritteln? Nun, allemal der Eurozentrismus, der dafür sorgt, dass dieser Preis wieder einmal an Frankreich geht -das nun mit 16 Ausgezeichneten vor den USA (13) und dem Vereinigten Königreich (12) führt. Und selbstverständlich ihr politisches Engagement nicht nur für den linkssektiererischen Frexit-Befürworter Jean-Luc Mélenchon, sondern auch für die antizionistische, ja vielfach als antisemitisch eingestufte Plattform BDS (Boycott, Divestments and Sanctions), die zum Boykott des "Apartheidstaats" Israel aufruft.
Im Unterschied zu Peter Handkes unsäglichem Eintreten für Serbien und den des Völkermordes angeklagten Slobodan Milošević finden die erwähnten Parteinahmen aber keinerlei Niederschlag in Ernaux' literarischem Œuvre. "Künstlerische Meisterschaft bei gleichzeitiger politischer Dummheit" attestierte denn auch die SZ der Autorin, deren Werk seit den 1970er-Jahren um die eigene Person und das eigene Herkunftsmilieu kreist.
Nicht nur der offizielle Weltruhm kommt nun spät, auch die Popularität im deutschen Sprachraum stellte sich mit Verzögerung ein. Die von Sonja Finck besorgte Übersetzung ihres Romans "Les Années", der 2008 in Frankreich sofort zum Bestseller avancierte, kam als "Die Jahre" erst 2017 auf den Markt und begründete den Ruf Ernaux' als Königin der nun sehr angesagten "Autofiktion".
Mit dazu beigetragen hatte der Umstand, dass im Jahr zuvor Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" auf Deutsch erschienen war. Der französische Philosoph beschäftigt sich in diesem Buch -das, wie er selbst eingestand, Ernaux' Schreiben vieles verdankt - mit seiner Herkunft aus dem Arbeitermilieu, in dem er als Homosexueller verachtet wird; mit seinem Aufstieg zum Intellektuellen und dem politischen "Niedergang" der Arbeiterklasse, die einst links gewählt hatte und sich plötzlich im ultrarechten Lager des Front National (heute: Rassemblement National) fand.
Der Soziologe Pierre Bourdieu, der wohl einflussreichste französische Intellektuelle seiner Generation abseits von Michel Foucault, hat seinen Freund Eribon ebenso beeinflusst wie auch Annie Ernaux. Er beschreibt die feinen (mitunter auch: groben) Unterschiede, in denen sich Klassengegensätze manifestieren und Distinktionsgewinne lukrieren lassen. Um diese Mechanismen wissend ist Ernaux ein naiv-unmittelbarer Zugang zum eigenen Ich verwehrt, erscheint dessen Einbettung in ein konkretes Milieu und historische Diskurse unumgänglich.
"Es gibt keine wirkliche Erinnerung an sich selbst", lautet ein viel zitierter programmatischer Satz aus Ernaux' Buch "Die Scham"(1997/2020), welches das "erste präzise und eindeutige Datum meiner Kindheit" ins Auge fasst: den 15. Juni 1952, an dem "mein Vater meine Mutter umbringen [wollte]".
Die Scham ist, woran unlängst der Wiener Philosoph Robert Pfaller in einem klugen Essay erinnert hat, total: Man kann sich entschuldigen, aber nicht "entschämen", ja schämt sich noch seiner Scham. "Das große Gedächtnis der Scham" hat Ernaux in "Erinnerungen eines Mädchens" (2016/2018) als deren "besondere Gabe" bezeichnet. Der Spur dieser Scham folgt sie beharrlich, wenn sie mithilfe akribischer Archivarbeit ihr Herkunftsmilieu oder sich selbst als "das Mädchen von 1958" rekonstruiert, das sexuell benutzt und als "kleine Hure" denunziert wird und dennoch stolz ist, begehrt zu werden.
"Jeden Tag bilden Männer irgendwo auf der Welt einen Kreis um eine Frau, um sie zu steinigen", heißt es in den "Erinnerungen". Den weiblichen Körper als Schau-und Kampfplatz rückt Ernaux immer wieder in den Mittelpunkt ihres Schreibens, etwa in "Das Ereignis"(2000/2021), das sich um eine illegale Abtreibung dreht, an der Ernaux im Alter von 23 beinahe verblutet wäre.
Die Verbindung radikal autobiografischen Schreibens und permanenter Distanznahme kennzeichnet Ernaux' Écriture. Typisch dafür ist der stete Wechsel der "Einstellung": zwischen Close-up und Totale; von der oft ermüdenden, quasi hyperrealistischen Auflistung diverser Realien und Zitate auf den großen, aus der "Man"-Perspektive erstellten Epochenkommentar.
Ernaux ist durch die Kältekammern des Poststrukturalismus und des Nouveau Roman gegangen, und die keineswegs uneitle Attitüde der "Ethnologin meiner selbst" verleiht ihren ziemlich bis sehr schmalen Büchern eine spezifisch französische Prätention, die sich an der eigenen Coolness berauscht. Man wird in den jargonesken Endlosschleifen ihrer Meta-Meta-Reflexionen viel radikal dekonstruiert finden, aber kaum einen anmutigen Satz. Und zum Lachen geht die Frau ohnedies in den Keller.