

Rififi-Schwuchtel versus Zombie-Diktator
Jutta Person in FALTER 42/2023 vom 18.10.2023 (S. 23)
Wer Kolibris für „Scheißstechmücken“ hält und statt der nichtsnutzigen Blumenpicker einen fetten, fleischfressenden Kondor sehen will, der kann nur ein Diktator sein. Wir befinden uns im Chile des Jahres 1986, aber Augusto Pinochet ist eher eine Nebenfigur in diesem fantastisch grotesken, poetisch-politischen Roman. Seine Protagonistin steht auf der Kolibri-Seite des Lebens: Die „Tunte von der Front“ wohnt in einem ärmlichen Viertel Santiagos, verdient Geld mit feinen Stickereien – und verliebt sich in Carlos, den jungen Revolutionär, der ein paar Kisten bei ihr abstellt.
Diese knallbunte, von tödlichen Gefahren bedrohte Liebesgeschichte zeigt ohne missionarischen Eifer, wie die Grenzen zwischen Sympathie, Begehren und politischer Aktion verschwimmen: Der alternde Homosexuelle nimmt immer mehr teil am Widerstand gegen das Regime. Der Aufstand des Jahres 1986 scheitert, und auch die Nähe der beiden bleibt ein halb geträumtes Hirngespinst, aber eben: nicht nichts.
Genau diese uneingelöste Utopie hatte Pedro Lemebel im Blick: Der 2015 verstorbene Schriftsteller und Performancekünstler forderte nicht nur die Diktatur, sondern auch Teile des linken Spießertums heraus. Mit der Aktionsgruppe „Die Stuten der Apokalypse“ ritt er nackt durch Santiago, bei einem Intellektuellentreffen tauchte er als Diva in Pumps auf.
„Torrero, ich hab Angst“ erschien 2001 in Chile, der Suhrkamp-Verlag hatte den Roman bereits 2004 unter dem Titel „Träume aus Plüsch“ veröffentlicht und bewirbt ihn jetzt als „ersten queeren Liebesroman der Weltliteratur“. Außergewöhnlich ist vor allem die Sprache, und auch die alte-neue Übersetzung von Matthias Strobel kann man nicht genug preisen. Mit der „Energie eines Falsettschwulen“ singend, „Besame mucho hustend“, verwandelt die Hauptfigur ihr Haus in eine Hochzeitstorte; eine „Rififischwuchtel“, die „Glasfunken in die karnevalisierte Luft“ schleudert. Auf der anderen Seite: ein Zombie-Diktator, der den Roman in eine schneidende Groteske verwandelt.
Ein Flöten, Trällern und Tänzeln durchzieht den Text, eine so lebenslustige wie todtraurige Bild- und Tonspur. „Torrero, ich hab Angst“ ist eine alte Schnulze, für die „Tunte von der Front“ und für den Kämpfer von der Frente wird sie aber zur geheimen Losung. Lemebel ist nah dran an seiner Heldin und ihren Schwächen; ihre Traumwelten macht er aber nie als „falsches Bewusstsein“ lächerlich. El Condor pasa – was bleibt, ist überschäumende Fantasie, ein utopisches, anderes Chile.