
Für einen Naturschutz ohne Käseglocke
Peter Iwaniewicz in FALTER 35/2010 vom 01.09.2010 (S. 15)
Im heurigen Jahr der Biodiversität, wo viele Kampagnen und Projekte Beiträge zum Schutz der Arten- und Lebensraumvielfalt liefern, kommt dieses Buch mit einem kritischen Essay zum Naturschutz gerade zur rechten Zeit. Mit präzisen Analysen und basierend auf seiner umfassenden Kompetenz als Universitätsprofessor, Leiter an der Münchner Zoologischen Staatssammlung und Autor zahlreicher Fachbücher zu Evolution und Ökologie legt Josef Reichholf die Schwachstellen der bestehenden Politik offen. Dies sehr zum Ärger mancher traditioneller Naturschützer, die unreflektiert immer länger werdende Listen bedrohter Tierarten verwalten und dynamische Ökosysteme durch Konservierung mit der Käseglocke erhalten wollen.
Reichholf führt auch den fachfremden Leser in angenehmer, niemals belehrender Weise durch die verschiedenen Aspekte und Probleme des aktuellen Natur- und Artenschutzes und macht dabei auch keinen Bogen um scheinbar einfache Fragen: Warum werden Lebewesen überhaupt geschützt? Gibt es "gute" Arten, und wenn ja, wer bestimmt darüber? Ein Beispiel zeigt die Widersprüche: In Deutschland wie in Österreich sind alle Singvögel geschützt, gefährdet ist aber nur ein Fünftel der Arten. Amseln, Finken und Stare kommen in großer Zahl und flächendeckend vor. Krähen und Elstern sind zwar auch Singvögel, doch viel seltener. Dennoch werden sie aufgrund von Ausnahmegenehmigungen zu Hunderttausenden abgeschossen.
Noch krasser wird das Missverhältnis, wenn Naturfreunde Naturschutzgebiete nicht mehr betreten, Angler hingegen in "rechtmäßiger Ausübung der Fischerei" mit ihren Booten in die Brutzonen der Wasservögel fahren dürfen. Was sind "gebietsfremde" Arten, und welche Lebewesen dürfen bleiben? Macht es Sinn, Naturzonen wie Denkmäler zu schützen, oder entspricht es nicht eher der Dynamik von Lebensräumen, dass diese sich verändern? Wann wird die Ökologie zur Lebenseinstellung Ökosophie?
Fragen, auf die Reichholf unkonventionelle Antworten gibt und die wichtig sind, um den Naturschutz aus der Ecke des dumpfen Heimatschutzes zu führen.


