

Ein Navigationswerkzeug für jeden Debattensturm
Robert Misik in FALTER 11/2022 vom 18.03.2022 (S. 26)
Der Sammelband "Geschichte des politischen Denkens" entpuppt sich als perfekte Handreichung für Debatten - und als Lesegenuss
Was kostet ein umfassendes Studium der Schlüsseltexte zur politischen Geistesgeschichte der vergangenen 250 Jahre an Lebenszeit und Geld, wenn dabei auch noch die Philosophie, die Ökonomie, die Soziologie berücksichtigt werden soll? Sicher ein Menschenleben, und für die Bibliothek sollte man 100.000 Euro veranschlagen.
Im Suhrkamp-Verlag ist das jetzt auf zeit-und kostengünstigere Weise zu haben. Manfred Brocker, Professor für politische Theorie und Philosophie, hat gerade die "Geschichte des politischen Denkens - Das 19. Jahrhundert" herausgebracht, nachdem bereits fette Reader über das 20. Jahrhundert und die Klassiker von der Antike bis zur Neuzeit erschienen sind. Jeder der Bände hat bei aller Verknappung dennoch seine 1000 Seiten. Ein Ideengestöber.
Das Konzept ist einfach: Jeder Denker, jede Denkerin wird anhand eines Schlüsseltextes auf knapp 15 Seiten vorgestellt. Der nunmehr veröffentlichte Band über das 19. Jahrhundert entpuppt sich als spektakuläre Vorgeschichte unserer Gegenwart.
Alles kommt hier auf, was heute noch nachwirkt: Liberalismus, Demokratie und Volksherrschaft und deren Gegenbewegungen, der Konservatismus, der den Wertewandel stoppen oder die Uhr zurückdrehen will, die Legitimierung von autoritärer Herrschaft genauso wie ein romantischer oder aggressiver Nationalismus. Sozialismus, Kommunismus, Individualismus, Anarcho-Ideen und Gemeinschafts-Utopien.
Es gibt luzide Einführungen in Hegels "Phänomenologie des Geistes" genauso wie in Robert Owens frühsozialistische Kooperations-Entwürfe, spannende Präsentationen von romantisch-konservativen Staatskunst-Idealen wie jene von Adam Müller, der zeitweise im Dienste Metternichs stand, der die Bindekräfte der Tradition bewahren und mit den Ideen von Rechtsstaat und Gesetzlichkeit aussöhnen wollte.
Der eurozentrische Blick wird immer wieder aufgerissen, etwa mit der Geschichte von Simón Bolívar, dem Sohn reicher spanischstämmiger Latifundienbesitzer, der viele Jahre durch Europa reiste, hier die modernen Prinzipien von Volksherrschaft, Nation und Aufklärung studierte, tiefe Einblicke gewann und zurück in Lateinamerika zum Begründer und Anführer der Unabhängigkeitsbewegungen wurde.
Mit seinen Armeen zog er triumphal in Bogotá ein, das heutige Bolivien ist nach ihm benannt. Einen südamerikanischen Superstaat lehnte er ab, er favorisierte die Bildung kleiner Republiken, die auch angesichts der Rückständigkeit noch lange auf den Weg zu "totaler Volksherrschaft" brauchen würden.
Jeder und jede wird dieses Buch mit Gewinn lesen: interessierte Laien erhalten eine umfassende Einführung, aber auch Spezialisten und Gelehrte werden ihre blinden Flecken kurieren können.
Da erhält man auf 15 Seiten einen spannenden Überblick über Henry David Thoreaus wirkmächtige Begründungen des "zivilen Ungehorsams" ("Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat"), und man kann mit viel Genuss Jörg Baberowskis Würdigung von Michail Bakunin lesen, den ungestümen, poetischen anarchistischen Revolutionär, der in "Staatlichkeit und Anarchie" seine Ideen der Herrschaftsfreiheit darlegte und schon vor 150 Jahren so klar gesehen hat, wie sich jede Herrschaft in autoritäre Tendenzen verpuppen wird, zu einer Kaste von Regenten führt, die an ihren Sesseln kleben, und seien es nur mediokre Funktionäre im demokratischen Parteienstaat.