

Plötzlich war Freud den Nazis recht
Robert Misik in FALTER 4/2024 vom 26.01.2024 (S. 19)
FPÖ-Chef Herbert Kickl zog jüngst wieder einmal vom Leder, da war von "Freiern" die Rede und von "Zuhältern" und vom "Swingerclub der Macht". Die Psychoanalyse hätte dazu gewiss Spritziges zu sagen, zur verschwitzten Sexualisierung, zum verkorksten Pubertantenhaften, das seit je in faschistischen und rechtsextremistischen Bewegungen steckt. Gilles Deleuze und Felix Guattari vermerkten in ihrem "Anti-Ödipus","in Wahrheit ist die Sexualität überall"."Hitler brachte es zustande, dass den Faschisten einer stand - wie auch Fahnen, Nationen, Armeen ... viele Leute aufgeilen."
In "Cold War Freud" schreibt die amerikanische Historikerin Dagmar Herzog eine politische Geschichte der Psychoanalyse seit etwa den 1940er-Jahren, also der Post-Sigmund-Freud-Ära: Freuds Lehre zwischen Anpassung und emanzipatorischen Angriffen auf die herrschenden Verhältnisse.
Ein packendes Panorama. Unpolitisch war die Psychoanalyse nie. Dem Konservatismus war sie verdächtig, religiöse Frömmler fanden sie schier gotteslästerlich. Wer das Individuum aus Zwängen befreien wollte, die es knechteten, fand sie dagegen fruchtbar. Und mit einem progressiven Zeitgeist war die Psycho-Wissenschaft sowieso eng verbunden: Sie wandte sich der Innerlichkeit der Subjekte zu. Als "jüdische" Wissenschaft war sie für Antisemiten ein rotes Tuch.
Umso erstaunlicher war dann, was ab 1945 geschah. Aufgrund der Vertreibung war das Zentrum der psychoanalytischen Bewegungen von Europa in die USA verschoben worden. Und sie hat sich dort allmählich dem amerikanischen Zeitgeist der 40er-und 50er-Jahre angepasst. Radikalere Emigranten zogen den Kopf ein, um nicht aufzufallen. Im Klima der McCarthy-Meinungsdiktatur war der Druck noch stärker, konservative und christliche Psychoanalytiker gewannen ihrerseits an Gewicht in der Branche. Die Psycho-Mode verschaffte dem Freudianismus einen Aufschwung, zog ihm allerdings den gesellschaftskritischen Stachel -mehr und mehr war die Psychoanalyse auf "Selbstoptimierung sowie 'die Macht des positiven Denkens' ausgerichtet"(Herzog). Thematiken wie Eros, Sexus, Libido wurden im Geist des Nachkriegskonservatismus unter den Teppich gekehrt. Bis dann die rebellischen Sixties wieder alles veränderten.
Angepasste und homophobe Psychoanalytiker auf der einen, rebellische und emanzipatorische sowie Anhänger der sexuellen Revolution auf der anderen Seite lieferten sich wüste Gefechte. Streckenweise liest sich das Buch wie ein intellektueller Thriller voller bizarrer Paradoxien und wilder Neuerungen.
Die Nazis etwa hatten die "jüdische Wissenschaft" verdammt, doch gingen wesentliche Erkenntnisse in die Psychologie und die Psychiatrie ein, wurden auch populär (Konzepte von "Neurosen" oder "Komplexen" etwa). In der Nachkriegszeit haben deutsche, postfaschistische Psychologen mit freudianischen Begrifflichkeiten viele Gutachten in Entschädigungsverfahren erstellt. Es wurde postuliert, dass "ein normaler Mensch" belastende Erfahrungen in sechs Monaten überwunden hätte, weshalb einem KZ-Überlebenden, der schwer misshandelt wurde, der alle seine Angehörigen verloren hatte, eine "hypochondrische Einstellung" attestiert wurde statt einer schweren seelischen Verwüstung.
Anderen wurde beschieden, es sei die Aussicht auf Opferrente, die dazu führe, "dass Menschen nicht gesund werden könnten". Da war von der "Flucht in die Krankheit" die Rede, weil diese "Krankheitsgewinn" brächte. Häufig wurde argumentiert: Wer als 40-Jähriger traumatisiert aus dem KZ kam, war wohl schon vorher verkorkst, da der Freud'schen Lehre entsprechend ja frühkindliche Erlebnisse und Prägungen für psychische Schäden verantwortlich seien.
Dagmar Herzog hat eine famose Geschichte der letzten 80 Jahre Zeitgeist und Geistesleben geschrieben.