

Für eine Theorie der zärtlichen Kräfte
Christoph Bartmann in FALTER 51/2009 vom 18.12.2009 (S. 40)
Der Allesaufsauger und begnadete Anekdotier Alexander Kluge sieht sich mit kühlem Blick im Labyrinth der Liebe um
Von wem stammt wohl dieser Satz: "In der Kaiserstraße in Frankfurt am Main reihen sich Fortbildungsinstitute des zweiten Bildungsweges, Stätten der Prostitution, Schnellimbisse, exotische Lokale aneinander." Natürlich, möchte man ausrufen, von Alexander Kluge. Aber warum?
Versuch einer Klärung: Puffs, Imbisse und Exoten fallen im Frankfurter Bahnhofsmilieu vielen auf, nicht aber die "Fortbildungsinstitute des zweiten Bildungsweges". Die fallen nur Alexander Kluge auf. Aus den übrigen Zutaten des Rotlichtbezirks könnte man stimmungsvolle Geschichten mischen, "Atmosphäre pur" sozusagen, aber das ist Kluges Sache nicht. Er schaut streng sachlich darauf, wie sich verschiedene Lebenssphären an bestimmten Orten begegnen, und er will wissen, was das Gesetz ihrer Begegnung ist.
Um solche Dinge in Erfahrung zu bringen, schreibt Kluge Geschichten, dreht Filme und führt Interviews mit Experten, denen er unablässig ins Wort fällt, weil ihn die Fragelust nicht ruhen lässt.
"Ein Fall von Zeitdruck", so der Titel der Geschichte aus der Kaiserstraße, einer von 166 "Liebesgeschichten", die für diesen Band aus über 2000 Kluge-Texten ausgewählt wurden. Darin verliebt sich Ingmar B., Leiter der Westafrika-Abteilung einer großen Bank, unglücklich und mit Todesfolgen in eine afrikanische Prostituierte. Das Ganze wird hier auf dreieinhalb Seiten nüchtern wegerzählt und gäbe gewiss genug Stoff für einen ganzen Roman. Aber das Romanhafte ist Kluge fern, ihn interessiert der Fall oder, anders, die Kasuistik.
Was sagt der Frankfurter "Fall von Zeitdruck" über unterschiedliche Vorstellungen von Liebe bei ungleich verteilter "Verwurzelung im Einvernehmen"? Und wen wundert es, wenn es bei solch überstürzten Liebesentscheidungen zu, auch dies ein Kluge-Titel, "Lernprozessen mit tödlichem Ausgang" kommt?
Man kann beim Lesen oder Wiederlesen dieser Liebesgeschichten und beim Anschauen der beigefügten DVD mit Filmen und Gesprächen ins Staunen geraten über den Kluge-Kosmos, diesen gewaltigen Verschiebebahnhof der Geschichten, der Erfahrung und der Theorien. Das Staunen wird nicht kleiner, wenn man bedenkt, dass Kluge weniger ein Produzent als ein Verwerter von Geschichten ist. Er saugt alles auf oder an, was ihm begegnet, seien es Anekdoten, Polizeiberichte, Fundsachen aller Art auf der einen und theoretisch Angelesenes auf der anderen Seite.
Freilich montiert er dann das viele Gefundene im Geiste seines Vorbilds Eisenstein zu etwas gänzlich Neuem und unverkennbar Eigenem. Wobei das Eigene selten oder nie an bestimmten Eigenschaften des Stils zu zeigen wäre. Keine der hier erzählten Liebesgeschichten ist "schön", keine ist irgendwie besonders "literarisch". Es wäre wohl auch nicht zu empfehlen, die 166 Geschichten am Stück zu lesen. Vielleicht genügt ein Kluge-Text von Zeit zu Zeit, so wie man früher von Zeit zu Zeit eine Hebel-
Anekdote las.
Aber Kluge ist, wie man weiß, nicht nur ein begnadeter Anekdotier, er ist ein Theoretiker aus eigenem Recht und als solcher mit Oskar Negt angetreten, der Marx'schen politischen Ökonomie des Kapitals die "politische Ökonomie der Arbeitskraft" und fernerhin die Ökonomie der Gefühle an die Seite zu stellen. "Zu den Theorien des Geldes, der Macht und der Weisheit", lesen wir im abschließenden Negt/Kluge-Essay "Love Politics", "brauchen wir eine Theorie der zärtlichen Kraft
".
Das stand so oder ähnlich schon in beider Klassiker "Geschichte und Eigensinn", aber es wird nicht dadurch richtiger, dass es von Negt und Kluge ist. Was Kluges Einzelfallgeschichten an Aha-Effekten auslösen können, das bleiben die theoretischen Schriften in aller Regel schuldig.
Und die Liebe? Nicht dass Kluge Antworten parat hielte, die uns einen Ausweg zeigen könnten aus dem "Labyrinth der zärtlichen Kraft". Aber Hinweise gibt es doch immerhin: "Warum enden Liebesverhältnisse alle tragisch? Nicht alle, antwortete Kriminalrat Schmücker. Immer aber die unter Zeitdruck."